Maryam Adim

Über mich:

Ich bin Maryam Adim und wurde 1992 in Mashhad im Iran geboren. Im März 2019 kam ich mit einem Bachelor-Abschluss in Handwerkskunst nach Deutschland. Nach sieben Monaten zogen mein Mann und ich von Clausthal nach Rostock, da er hier studieren wollte. 

Wegen der Corona-Krise konnte ich keine Deutschkurse besuchen, also habe ich die Sprache zu Hause online gelernt. In dieser Zeit fühlte ich mich isoliert, trotzdem habe ich in verschiedenen Bereichen wie Gastronomie und Tourismus gearbeitet. 

Momentan male ich zu Hause und hoffe, meine Kunstwerke irgendwann auf Ausstellungen zeigen zu können. Mein Ziel ist es, meine Sprachkenntnisse zu verbessern, um mit Künstlern aus Deutschland und anderen Ländern in Kontakt zu treten. 

Ich hoffe auf eine Welt voller Frieden und Freundschaft, während ich meine künstlerische Reise in Deutschland fortsetze. 

Originaltext

Übersetzung

„Entschuldigen Sie bitte! Einen Moment…“

„Ja?“

„Oh mein Gott… Sie… Sind Sie Marwa?“

„Entschuldigung? Sie haben sich geirrt.“

„Sie sind meiner Schwester sehr ähnlich. Ich dachte, Sie… Ich habe sie seit einigen Jahren nicht mehr gesehen.“

„Es tut mir leid. Sie haben sich geirrt.“

„Ja… habe mich geirrt… Entschuldigung… tut mir sehr leid…“

Während Ibrahim das Wort „Entschuldigung“ wiederholte, stieg er auf sein Fahrrad und die Augen der Frau, die voller Fragen waren, folgte ihm bis zu einer Kurve der Straße, wo er aus ihrem Blickfeld verschwand. Es war nicht das erste Mal, dass Ibrahim jemanden mit seiner Schwester verwechselte. Seit seinem letzten Treffen mit Marwa waren etwa acht Jahre vergangen. Er konnte sich immer noch an Marwas Geburtstag erinnern, als die Kirschbäume in voller Blüte standen und Ibrahim den ganzen Weg von der Schule nach Hause rannte, um seine Schwester zu treffen. Er konnte immer noch die Wärme von Marwas kleinen Händen spüren, als sie den roten Tee in ein gläsernes Glas goss und ihn auf einer zarten dünnen Untertasse abstellte. Und ihr Lächeln, das so zart wie die Kirschblüten war, ließ Ibrahim das ganze Jahr über auf die Blütezeit der Kirschbäume warten.

„Entschuldigung, Madam,… Entschuldigung…“

„Ja?“

„Sind Sie Marwa?“

„Wie bitte?“

„Sie ähneln meiner Schwester sehr.“

„Sie haben sich geirrt.“

„Aber…Sie…“

„Ich sagte Ihnen doch, Sie haben sich geirrt.“

„Ja… Entschuldigung… Entschuldigung…“

Marwa war ein jesidisches Mädchen und kam aus der Stadt Sindschar im Irak. Bei dem Fall dieser Stadt durch den Angriff der IS-Milizen im Jahr 2014 war Marwa wie viele jesidische Frauen und Kinder festgenommen und gefangen worden. Ein ehemaliger Nachbar von Ibrahim hatte ihm erzählt, dass er Marwa zuletzt im Jahr 2016 auf dem Markt bei den Sklavenhändlern gesehen hatte, als sie schwanger war und Anzeichen von Folter an ihrem Körper zu sehen waren.

Ibrahim ließ die Kurve hinter sich und fuhr mit seinem Fahrrad bis zur Kirche. Es war bewölkt. Die Musik klang in den Kirchhof und der Chor sang einstimmig:

– „Kommt, Ihr Töchter, mit Klagen“

Die Musik stieg von den roten Ziegeln der Kirche empor und erhob sich. Sie durchdrang die spitz zulaufende und prächtige Architektur und öffnete von da das Herz des Himmels. Ibrahims rote Augen erhoben sich über die Ziegel der Kirche und je höher sein Blick stieg, desto mehr erfüllten die Gesänge ihm den Kopf. Er hörte Marwas Stimme, wie sie religiöse Lieder sang:

– „Sehet – was? Seht die Geduld!“

– „Seht- wohin? Auf unsre Schuld!“


Wie schön Marwa in ihrem weißen Kleid aussah! Wie gut es ihr stand! Wie wunderschön die jesidischen Lieder waren! Die Röte von Ibrahims Augen breitete sich über die weiße Blüte der
Kirschbäume aus und rann davon hinab. Zwischen den Lippen murmelte er:

– „Oh, Lamm Gottes, unschuldig!“

Ibrahim flüsterte ein Lied vor sich hin und die Blüten tanzten um ihn herum:

– „All Sünd hast du getragen.
Sonst müssten wir verzagen.“


Marwa ging auf das Kirchentor zu und Ibrahim nahm den Duft der Kirschblüten wahr, der mit ihr in die Kirche eindrang. Ibrahims Stimme verlor sich im Klang der Musik und des Chors.

– „Marwa…. Marwa…“

…Ibrahim warf sein Fahrrad zu Boden und lief zur Kirche, während er keuchend Marwas Namen rief. Er betrat die Kirche. Marwa war in der Menschenmenge verschwunden, wie eine frische Blüte, die vom Wind fortgetragen worden war. Ibrahim suchte verzweifelt die Gesichter ab. Er lief in alle Richtungen, drehte sich im Kreis, den Namen von Marwa vor sich hin murmelnd und verstreute die Kirschblüten in der Kirche. Mit seinen roten, feuchten Augen sah er Marwa, wie sie dort stand und sang. Ja, es war sie selbst. Mit demselben weißen Kleid, demselben Lächeln und demselben religiösen Gesang:

– „Das dieses fromme Weib,
Mit Salben deinen Leib,
Zum Grabe will bereiten.“


Ibrahim zog Marwa in seine Arme. Die Frau schrie auf. Die Stimme des Chors, die klingenden Saiteninstrumente und der Schrei einer Frau, die sich aus Ibrahims Händen befreien wollte, vermischten sich und prallten gegen die Ziegel der Kirche.

– „So lass mir inzwischen zu,
von meiner Augen Tränenflüssen,
Ein Wasser auf dein Haupt zu gießen!“
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Als das kalte Wasser sein Gesicht traf, erwachte Ibrahim. Nach einem Hustenanfall öffnete er mühsam seine roten Augen.

Um ihn herum und in seinen Augen waren Kirschblüten und  zwei Personen, die versuchten, ihn zur Besinnung zu bringen. Jemand hatte ihn hergebracht und an den Kirschbaum im Kirchenhof gelehnt. In diesem Moment signalisierte er mit einer Kopf- und Handbewegung, dass es ihm gut
gehe. Kurz darauf verschwanden die Menschen aus Ibrahims Augen, sein Blick war
jetzt voll weißer Blüten, weiß wie das Kleid von Marwa, das sich immer weiter und weiter entfernte.

[1] Es kommen verschiedene kulturelle Elemente in diesem Text zusammen. Die zitierten Gedichte stammen von Pikander, sie werden, in der „Matthäus-Passion“, einem bekannten Werk von Johann Sebastian Bach, gesungen. Darin geht es um das Leben Jesu Christi. Auch die Gedichte spielen auf die Heilige Schrift an.

Aus dem Persischen übersetzt von Ali Abdollahi.