Mofida Ankir

Über mich:

Ich bin Mofida Ankir, ich wurde am 02.12.1982 in Idlib in Syrien geboren. Ich habe Arabische
Literatur studiert und als Arabisch-Lehrerin, Journalistin und in der Kinderbetreuung gearbeitet. 2015 bin ich nach Deutschland gekommen, ich wohne in Stralsund. Ich spreche Deutsch und Arabisch.
Mein einziger Wunsch ist, dass in meinem Land Frieden herrscht. Und: meinen ersten Roman zu schreiben!

Briefwechsel:

Mofida Ankir – Vera Rusch
Mofida Ankir – Friedrun
Mofida Ankir – Gabriela Heidenreich

Originaltexte

Übersetzungen

Huda hatte nie große Träume. Sie träumte lediglich davon, zu heiraten, Kinder zu kriegen und sie bei ihrem Aufwachsen, Lernen, Lesen und Schreiben zu beobachten. Das Lesen und Schreiben war ein Traum, den sie selbst in ihrer Kindheit vergeblich geträumt hatte. Weil der Schuldirektor ihres Dorfes mit ihrer Familie zerstritten war, blieb ihr und dem kleinen Bruder der Schulbesuch untersagt. In einem kleinen syrischen Dorf kann ein hasserfüllter Schuldirektor eine ganze Zukunft ruinieren oder die Karriere gefährden, vor allem, wenn er mit den Mächtigen im Bunde ist.
Will sie ihre Kinder behalten, so bleibt einer Frau wie Huda nichts übrig, als über die Fehler ihres Mannes hinwegzusehen. Gerade in abgelegenen Dörfern gilt kein Gesetz, das die Rechte unterdrückter Frauen beschützen könnte. Die Tradition zwingt Frauen dazu, ihre Kinder im Stich zu lassen. Wollen sie der Ehe entkommen und zurück zu ihren Eltern gehen, dann verlieren sie jeglichen Einfluss.
So geschah es auch mit Huda, die in ihrer Ehe so lange misshandelt wurde, bis sie die Situation nicht mehr ertrug, aus dem Haus floh und ihren herz- und gnadenlosen Ehemann zurückließ. Ihre kleinen Kinder mussten dennoch beim Mann bleiben. 
Aber Hudas Leiden reichten noch weiter. Die Tradition gebietet den Frauen: Bleib zuhause und verlass das Haus nicht ohne Begleitung. Keiner schenkt in dieser Gesellschaft geschiedenen Frauen Vertrauen. Und oft sehen die Männer in ihnen eine leichte Beute.
Huda verbrachte ihr Leben abwechselnd bei der Arbeit auf dem Feld oder zuhause bei ihrer Familie. Sie hörte nicht auf, sich zu sehnen und ihre Kinder zu beweinen, von denen sie glaubte, sie werde sie nie mehr wiedersehen.
Huda wusste nicht, wozu die Scheidung führen kann. Sie hatte nur der Gewalt ihres Mannes entkommen wollen, der bei seinen Wutausbrüchen auch die Kinder schlug.
Als Huda eines Tages auf dem Feld arbeitete, lachte ihr das Schicksal. Samer aus dem Nachbardorf kam des Weges, um der Familie die Ernte abzukaufen. Huda hatte es ihm sofort angetan und so bat er die Eltern ohne Zögern darum, sie heiraten zu dürfen. 
Ablehnen konnte Huda nicht, auch wenn Samer bereits verheiratet war. Denn die Ehe war der einzige Weg, der Gefangenschaft durch Dorf und Familie zu entkommen und davon zu träumen, dass der neue Mann immerhin besser sein werde als der alte. 
Aber ihre Träume versetzten Huda abermals eine Ohrfeige. Denn der neue Mann war keine Spur besser und das Leben zu dritt mit der anderen Frau versprach kein besseres Leben. Immerhin durfte sie während der ersten Monate der neuen Ehe doch einmal ihre Kinder sehen. Der neue Mann hatte es ihr erlaubt, allerdings nur ein einziges Mal.
In den nächsten Monaten wurde Huda wieder schwanger und beging den gleichen Fehler wie zuvor. Wieder hatte sie nicht abgewartet, ob ihr neuer Ehemann wirklich geeignet war. Während seiner Dienstreisen in die Nachbardörfer musste Huda sich Essen von den Nachbarn borgen, weil die erste Frau alles Essen sorgsam vor ihr versteckt hielt.
Der Krieg begann und Huda, ihr Mann, seine erste Frau und ihre Kinder mussten in den Irak fliehen und in einem Flüchtlingslager für Syrer Zuflucht suchen. Jeden Tag wartete sie mit vielen anderen auf die Essensrationen für sich und ihren Sohn.
Als Huda sah, dass die Leute ihr Essen wegwarfen oder es nicht ganz aufaßen, kam ihr eine Idee. Sie kaufte die Reste gegen eine kleine Summe, ging aus dem Lager und verkaufte sie dort wiederum, zu einem höheren Preis. Aus dieser Idee wurde nach und nach ein eigener Laden in der Nähe des Lagers.
So konnte sie Geld sammeln, um sich, ihrem Mann und ihrem Kind die Reise nach Deutschland zu finanzieren. Jetzt war ihr Mann finanziell von ihr abhängig und hoffte darauf, dass sie auch seine erste Frau und deren Kinder unterstützen würde.
Tatsächlich gelang es Huda, mit ihrem Sohn nach Deutschland zu kommen. Dort lebte sie zum ersten Mal allein, getrennt von ihrem Mann und seiner ersten Frau. Anfangs konnte sie sich von ihrem Mann noch nicht ganz lossagen, finanziell war sie aber bereits unabhängig. Allerdings besuchte er sie oft, um seine männliche Autorität über sie auszuüben, und so brachte sie zwei weitere Söhne zur Welt.
Für Huda fing dennoch ein anderes Leben an. Sie erlernte die deutsche Sprache, konnte aber weiterhin nicht auf Arabisch lesen und schreiben. Doch ihr Kindertraum war beharrlich und brachte sie schließlich dazu, beide Sprachen zu erlernen und ihr Glück zu verdoppeln. 
Huda, die nicht lesen konnte, spricht heute zwei Sprachen fließend. Dazu spricht sie auch die von ihrem Mann ohne Absicht erlernte kurdische Sprache, die auch die Sprache ihrer Kinder ist.Hudas kleinem Glück stand nun eigentlich nichts mehr im Weg. Aber sie träumte immer noch davon, ihre Kinder wiederzusehen, die sie seit dreizehn Jahren vermisst und seit dem Ausbruch des Krieges nicht mehr gesehen hatte. Der Traum hörte nicht auf, bis sie eines Tages zum Wohnort ihrer Kinder in den Libanon reiste und sie endlich wiedersah. Ihr Glück fasste sie in einem Satz zusammen, den sie immerzu wiederholte: „Ich fühle mich wie neugeboren“. Allen Bekannten erzählte sie seither, dass Träume wahr werden können. Was auch immer geschieht, lasst nicht zu, dass sich der Erfüllung Eurer Träume etwas in den Weg stellt.

Aus dem Arabischen übersetzt vom arabisch-deutschen Kollektiv WIESE..

Die Vögel lügen nicht,
sie erzählen mir immer, dass diejenigen, die ich dort verlassen habe, nicht gut sind.
Die Bäume lügen nicht,
ihre hier staubig-grüne Farbe verrät mir, dass auch meine Bäume, die ich dort gepflanzt habe, nicht gut sind.
Das Meer lügt nicht,
seine verirrten Wellen sagen mir jedes Mal, wenn ich es besuche: Diejenigen, die dort gestorben sind, rufen mich, zurückzukehren.
Die Toten lügen nicht,
sie rufen mich in jedem Traum an und sagen mir: Bist du wohlauf? Wir sind sehr wohlauf.
Die Erinnerungen altern nicht,
hat mein Großvater gesagt und küsste die Stirn der Nacht und starb.
Die Erinnerungen altern nicht,
alle Abwesenden singen sie und wiederholen sie wie ein trauriges Abendlied jeden Tag, um am Leben zu bleiben.
Die Erinnerungen altern nicht,
ich wiederhole sie jeden Tag, während ich mich an deine Worte erinnere, als du gegangen bist.
Geh nicht, ich brauche dein Gesicht, um zu leben.

Aus dem Arabischen übersetzt vom arabisch-deutschen Kollektiv WIESE.

Lieber, mir bis jetzt noch unbekannter Deutscher,

keine Person gleicht sich selbst, wenn sie schreibt. Beim Schreiben kann sie sich ehrlicher, trauriger oder auch optimistischer geben. Ich will daher von Anfang an offen zu Dir sein. Eigentlich wollte ich Dir gar nicht schreiben, aber nachdem ich heute auf der Arbeit rassistisch angegriffen wurde, muss ich Dir doch ein paar Fragen stellen: Was gewinnt ein Mensch durch Rassismus? Was verlöre er, würde er die anderen einfach akzeptieren? Kann ich hier Menschen finden, die mich als dunkelhäutige, geflüchtete Frau mit Kopftuch so annehmen wie ich bin? Es brauchen gar nicht viele Menschen zu sein, schon einige wenige würden mir helfen, um nicht verrückt zu werden. Seit einige Zeit denke ich darüber nach, warum ich immer noch nicht fließend Deutsch spreche. Die Antwort wurde mir klar, als ich einen spanischen Freund traf, mit dem ich mich auf Deutsch unterhalten habe. Alle, die dabei waren, haben bemerkt, dass ich eigentlich sehr gut Deutsch sprechen kann. Da verstand ich, dass es mit der Sprache wie mit der Liebe ist. Wir können sie nur mit denen praktizieren, die wir wirklich lieben und die uns wirklich lieben.
Na, war ich ehrlich zu Dir?
Ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen. Ich heiße Mufida und bin eine Frau, die auf ihre Vierziger zugeht. Diese Frau verabschiedet sich gerade von einem Jahrzehnt, in dem sie ihre Eltern und Geschwister nicht mehr gesehen hat, weil sie vor dem physischen Krieg in Syrien floh und seither an einem psychischen Krieg in Deutschland teilnimmt. Sie floh aus einem Land, in dem sie schuldig wurde, weil sie träumte von Freiheit, Gerechtigkeit und Sicherheit. Später erwachte sie auf der Flucht in einem Schlauchboot. Danach sah sie sich durch trostlose, Angst einflößende Wälder laufen. Und schließlich fasste sie Fuß in einem Land, das keinerlei Ähnlichkeit mit ihrer Heimat hat und wo man sie verspottet, weil sie anders ist, in ihrer Hautfarbe, ihrem Aussehen und ihren Essgewohnheiten. Stell Dir das mal vor!
Träume lügen, mein Lieber. Besser, Du glaubst ihnen nicht.
Klingt Dir das alles zu traurig?
Vergessen wir das alles, lieber, mir bis jetzt noch unbekannter Deutscher, stellen wir uns vor, dass Du diesen Brief mit Interesse liest und Dich freust, mir bald zu antworten. Dass wir eine Sprache voller Liebe sprechen. Dass Du von meinem fremden Essen probierst und ich von Deinem. Dass Du mehr über mich, Syrien, meine Familie und meine Interessen erfahren willst.
Vielleicht bist Du ja auch neugierig und willst wissen, wie viele Menschen mir hier mit Liebe begegnen oder wie groß mein deutscher Wortschatz ist? Begegne mir mit etwas mehr Liebe und Akzeptanz, auch wenn Du sie mir nur vorspielst, das ist mir egal. Ich will mir nur endlich ausmalen können, dass ein Deutscher mir voller Liebe und Akzeptanz einen guten Morgen wünscht. 
Klinge ich zu optimistisch?
Lieber, mir vielleicht bis jetzt immer noch unbekannter Deutscher, vielleicht findest Du ja auch, dass ich viel zu negativ bin. Du sollst wissen, in Wirklichkeit bin ich froh und optimistisch. Ich weiß, wie man das Glück sucht, und sei es nur mit Worten, und ich weiß, wie man andere glücklicher macht. Ich bin nicht nur gut darin, Freunde zu finden. Alle Freunde, die ich je hatte, sind auch meine Freunde geblieben. Sie geben sich redlich Mühe, mich glücklich zu machen, und auch ich tue alles, um sie glücklich zu sehen. Aber das Schicksal wollte es, dass Dir schreibe, während ich sehr traurig bin. Vielleicht vermag ich es, auf diese Weise den Menschen in Dir zu erreichen und ihn zu einer Antwort zu bewegen, so dass wir gemeinsam neue Wege finden, einander zu akzeptieren, glücklich und zufrieden zu machen und uns sicher zu fühlen.

In gespannter Erwartung Deiner Nachricht
Mofida Ankir,
eine Geflüchtete, die ganz im Zeichen der Liebe steht

Aus dem Arabischen übersetzt vom arabisch-deutschen Kollektiv WIESE.