Sieglinde Tamms

Über mich:

Ich bin 1944 geboren und Rentnerin. Auch meine Eltern bekamen einst Flüchtlinge zugewiesen, sie wurden später zu Freunden. Ich wurde Sekretärin, heiratete, bekam eine Tochter, die uns zu Großeltern machte. Ein Urenkelchen ist drei Jahre alt. Ich lebe in einem Dorf bei Stralsund.
Wie sehr der Weltfrieden gefährdet ist und dass immer wieder Kriege die Menschheit in tiefstes Unglück stürzen, macht mich fassungslos.

Briefwechsel:

Sieglinde Tamms – Yevheniia Mruha

Originaltext

Liebe Frau Mruha,
die Texte, in denen Sie über ihr gegenwärtiges Leben berichten, haben mich sehr berührt und sind Anlass, Ihnen zu antworten. Sie beschrieben eindringlich, wie Sie den Beginn des Krieges erlebten, wie Ihr normales Leben sich veränderte – nämlich durch Ereignisse, womit alle Kriege beginnen – schleichend, tückisch, gefährlich, nicht begreifbar.
Zum Ende des II. Weltkrieges war ich vier Jahre alt. Man sagt, dass die Erinnerungen eines Kindes mit ungefähr vier Jahren beginnen. Wir hockten im Keller des Mehrfamilienhauses – Frauen und Kinder. Die Männer waren im Krieg, der bereits verloren war. Begriffen hatten es die Soldaten schon lange, es auszusprechen, war lebensgefährlich. Ich erinnere mich an das schauerliche Heulen der Sirenen, das Brummen der Flugzeuge, die ihre tödliche Fracht jederzeit abwerfen konnten. Die Kellerfenster zerbarsten mit lautem Knall, weil Granatsplitter das Haus trafen. In unmittelbarer Nachbarschaft befand sich die Kaserne, die eigentlich als Ziel dienen sollte. Meine Großmutter, eine sehr fromme Frau, betete laut, und wir Kinder weinten vor Angst. Das Nachbarhaus brannte lichterloh, und die verzweifelten Menschen versuchten, Wasser mit Eimern aus irgendwelchen Regentonnen zu schöpfen. Ein völlig sinnloses Bemühen. Panische Angst ergriff die Frauen, dass das Feuer auch unser Fachwerkhaus erreichen könnte. Aber es blieb glücklicherweise verschont. 
Der Frühling kam, ein blutiger Frühling. Was von Deutschland übriggeblieben war, wurde von Flüchtlingen überrannt, die keiner haben wollte, denen auch kein Mitgefühl entgegengebracht wurde. Die Menschen waren hart geworden. Alle hatten nur einen Gedanken, zu überleben. Glück hatten die, die von Verwandten aufgenommen wurden, wie die Schwester meiner Mutter, die halb verhungert, verdreckt und stark traumatisiert von den schrecklichen Erlebnissen der Flucht mit vier kleinen Kindern und einem Köfferchen Kindersachen bei uns in Quedlinburg, einer Stadt am Rande des Harzes, eine Bleibe fand.
Dann war der Krieg endlich zu Ende. Viele Deutsche waren jedoch auch jetzt nicht bereit, die schreckliche Schuld anderen Völkern gegenüber aufzuarbeiten.
Ich wurde zwei Jahre nach Kriegsende eingeschult. Mein Lesebuch hatte einen völlig unpolitischen Inhalt, ließ uns das Lesen gern erlernen. Wie wenig gehörte damals dazu, glücklich zu sein: in ein Stück Brot beißen zu können. Überall stand an den Mauern „Nie wieder Krieg“. Diese so eindringliche Mahnung ist heute vergessen, der Weltfrieden gefährdeter denn je. Elend, Tod, entsetzliches Leid – als würden die Menschen nie, nie aus der Vergangenheit lernen, und die Waffen werden immer gefährlicher. 
Die Menschen in der ehemaligen Sowjetunion – auch Russen und Ukrainer – hatten im Zweiten Weltkrieg große Opfer zu beklagen. Heute herrscht Krieg zwischen Russen und Ukrainern. Der russische Diktator Putin hat die Ukraine überfallen. Ich hätte nie gedacht, dass ich in meinem hohen Alter noch einen Krieg erlebe. Zwar nicht in unserem Land, aber Deutschland ist sehr nahe an dem Konflikt und unterstützt die Ukraine, die sich verteidigen muss. Und wieder – wie so oft in der Geschichte – müssen unschuldige Menschen büßen. Ihr Leben wird bestimmt von Elend, Flucht, Tod. Ich denke mir, dass es viele Ukrainer und auch Russen gibt, die diesen Krieg verfluchen, und trotzdem findet er statt. – Auch Sie, Frau Mruha, haben die Folgen ertragen müssen, sind mit Ihrer Tochter nach Deutschland geflohen und mussten Ihren Mann zurücklassen. Sie beschreiben die Erfahrungen, die Sie mit dem Krieg machten. Herausgerissen aus dem normalen Leben in diese trostlose Situation. Sie wünschen sich Frieden. Wie es jetzt in der Welt aussieht, wird sich dieser Herzenswunsch in naher Zukunft nicht erfüllen. – Sie sind Lehrerin, ein wunderbarer Beruf. Deutschland braucht dringend Lehrer, aber sie wollen wieder zurück in Ihre Heimat, was ich gut verstehe. Auch ich liebe meine Heimat und würde sie freiwillig nie verlassen. Meine älteste Enkelin hat in Jena studiert und ist Lehrerin mit Leib und Seele. Ich bin sehr stolz auf sie.
Sehr aufmerksam las ich, wie Sie die Deutschen einschätzen. Sie spenden viel Lob und beurteilen uns sehr freundlich. Der Dialog mit Ihnen brachte mich dazu, über mein eigenes Leben nachzudenken. Mir geht es gut, und wo ich lebe, herrscht Frieden. 
Der Frühling kommt mit seiner duftenden Süße, die Vögel singen und des Nachts breitet sich ein glitzernder Sternenhimmel über das Land. Ich wünsche uns so sehr, dass dieser sinnlose Krieg, in dem Tausende sterben müssen, bald zu Ende geht und Sie wieder in Ihren heimatlichen Himmel schauen können. – Wie kann ich Ihnen Mut machen? Ich möchte es so gern.

Sieglinde Tamms

Antwort auf: Yevheniia Mruha