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Briefwechsel:
Tobias Reußwig – Olena Fomenko
Originaltexte
Wurzeln
Ich bin zurückgekommen, zum ersten Mal seit siebenundzwanzig Jahren. Es hat sich nicht viel verändert im Städtchen N.: Der Strom fließt weiter zwischen seinen von Gräsern überwucherten Ufern, die Häuser aus rot leuchtenden Backsteinen stehen gedrungen, und die Kirchtürme ragen wie warnende Flaggen in den tief hängenden Himmel.
Ich mache einen Spaziergang. Auf der Langen Straße ist Markt; die Stände reihen sich vor historischem Fachwerk und Handyläden. Ich suche nach vertrauten Gesichtern in der Menge, mustere lustlos die Waren, prokrastiniere. Die mehrstöckige Musikschule, Ort meiner musikalischen Früherziehung, steht noch, und schwitzt im Sonnenlicht. Sie teilt sich ihren Hof mit einem von zwei Gymnasien, die sich über einen flachen Wassergraben hinweg finster anstarren; das jenseitige war damals meines. Ein Schulleiter regierte dort, der so überzeugend christdemokratisch auftrat, dass er seinen Rassismus Schülern gegenüber nicht zu verstecken versuchte. An einer schwer einsehbaren Ecke, unmittelbar vor dieser Schule, sollte ich einmal ausgeraubt werden: Mehmet aber, für den ich zwei Jahre zuvor bei unserer Klassenlehrerin Partei ergriffen hatte, hielt seine Freunde zurück: „Den nicht, den nicht!“
Die Gässchen zwischen all dem sind enger geworden, und ich bestaune die Sommerstille, die sich so leicht abseits der größeren Straßen finden lässt: Auf den baumbeschatteten Innenhöfen, den lauschigen Parkplätzen und unter der Fußgängerbrücke. Es ist, als wäre der Ort in Kunstharz eingegossen worden, das sogar den Einfallswinkel der Sonnenstrahlen eingefangen hat. Ich bin ein anderer geworden, seitdem ich hier einheimisch war; zurückgekommen ist ein Tourist, der nach Erinnerungen aus einem früheren Leben sucht.
Kurz bevor ich damals ging, warf ich, einer Fußnote gleich, mein erstes, mir von meiner Mutter geschenktes Mobiltelefon in die Weser. Ich könnte nach ihm tauchen, es von seinem Ruheort im Schlick an die Oberfläche zurückzerren und achtunddreißig verpasste Anrufe vorfinden. Ich müsste bloß die Seepocken vom Display kratzen.
Ich schüttle den Kopf. 27 Jahre, seitdem ich mein Abitur, den Schein zur Freiheit, errungen hatte, 27 Jahre, seitdem ich meinen Weggang verkündet hatte, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wohin ich gehen würde. Niemand sollte mich anrufen und fragen, ob ich gut in meiner neuen Wohnung angekommen sei; niemand einfach mal hören, wie es mir denn ginge; Weihnachts- und Geburtstagsgrüße sollten mich nicht finden. Mein Schweigen war gleichermaßen stoisch wie entschieden geblieben, und ich nur ruhiger und ruhiger geworden, je hysterischer sie fragte.
Schließlich ist es an der Zeit; ich stehe vor dem Eisentor, es ist nicht verschlossen. Bäume umstehen das Gelände und schirmen es vom Straßenlärm ab, die Gräber liegen still in ordentlichen Reihen. Die Beerdigung liegt jetzt zwei Monate zurück; ich bin sicher, dass ich alleine bleiben werde.
Hier liegt sie also: Der Stein wurde nicht poliert und trägt ihren Mädchennamen. Ich hatte gehofft, dass sich dieser Augenblick wie das Ende einer Reise anfühlen würde: Wie ein inneres Aufatmen. Aber er verändert nichts. Alles bleibt, wie es ist; ein Wiedererkennen im Sommer und die Gewissheit, hier nicht länger hinzugehören. Auch hierhin nicht, nicht auf diesen Friedhof, nicht an dieses Grab.
Hier liegen meine Wurzeln, daran ist nicht zu rütteln, denke ich, als ich mich zum gehen wende; und hier werden sie bleiben.
Antwort an Olena Fomenko