Valeriia Karpova

Über mich:

Wenn jemand dich bittet, etwas über dich zu erzählen, ist das schwieriger, als es scheint. Es kommen einem die banalsten Dinge in den Sinn, wie zum Beispiel Alter, Name, Hobbys, und das war’s. Aber wenn du wirklich jemanden kennenlernen willst, ist es viel besser, zu fragen, was dir an anderen Menschen wichtig ist, wie du deinen perfekten Tag beschreiben würdest.
Was ist deine kostbarste Erinnerung?
Was bedeuten für dich Freundschaft und Liebe?
Mein Name ist Valeriia und ich bin Dichterin. Ich kann mich als einen Menschen mit feiner seelischer Struktur beschreiben, der stets auf der Suche nach Antworten ist. Eine facettenreiche Persönlichkeit mit der Seele einer Dichterin, die Anerkennung verlangt, und dem disziplinierten, kühlen Verstand einer Wissenschaftlerin. Schon seit meiner frühesten Kindheit habe ich über Fragen nachgedacht wie: Was ist das Leben? Was ist Inspiration? Was bedeuten Liebe und Freundschaft? Wie beschreibt man das Bild der Welt, wenn man nicht weiß, wie man eine Geschichte beginnen soll? Und jetzt, mit 27 Jahren, kann ich sagen, dass ich immer noch nach Antworten auf diese Fragen suche. Das hilft mir beim Schreiben und dabei, meine Energie aufzuladen. Denn ein Schriftsteller ist ein ewiger Wanderer auf der Suche nach der Wahrheit. Meine Texte sind voller Emotionen, durchdrungen von Erinnerungen, Gefühlen und manchmal auch von Liebe. Um mich zu beschreiben, genügen ein paar Sätze – in ihnen erkennt man mein wahres Gesicht, als Mensch und als Schriftsteller. Ich schreibe unterwegs, auf der Reise, wenn draußen vor dem Fenster wunderschöne Landschaften vorbeiziehen. Mein Herz sagt mir: Beschreibe, was du jetzt wirklich fühlst und siehst. Dann tauche ich ein in die wundersame Welt der Poesie, in der in jeder Ecke ein Stück Inspiration verborgen liegt.
Schreiben bedeutet für mich, aus Skizzen ein ganzes Leben zusammenzusetzen – und all das auf das Papier zu gießen.

Originaltext

Es geschah an einem Herbsttag in einer kleinen deutschen Stadt, die von Flüssen und Meeren umgeben war und wo man immer das Singen der Vögel und das Kreischen der Möwen hören konnte. An einem Ort, an dem die Menschen sich oft schon vorher kannten, aber aus irgendeinem Grund vorgaben, es nicht zu tun.

In dieser auf den ersten Blick ruhigen Stadt lebte eine junge Frau namens Alice. Sie war Schriftstellerin, und wie bekannt ist, sind alle Schriftsteller sehr interessante, aber verwirrte Menschen. Sie hatte viele Freunde und Bekannte, aber oftmals fühlte sie sich inmitten der Menschenmenge einsam.

Und dann, an einem Herbstmorgen, wachte sie mit einem Gefühl der völligen Leere und Angst auf. In solchen Momenten ging sie immer zum Wasser, entweder ans Meer oder an den Fluss. Am Wasser fühlte sie sich immer wohl, und nach ein paar Stunden wurde es ihr leichter, aber nicht dieses Mal.

Dieses Mal war alles irgendwie anders. Und als die Sonne ihren wohlverdienten Ruhestand antrat, begab sie sich an ihren Lieblingsort in dieser Stadt, sie ging zum Fluss.

Es war schon nach Mitternacht, kaum jemand war um sie herum, und an ihrem Lieblingsplatz herrschte Stille.

Sie setzte sich an den Rand des Wassers, setzte ihre Kopfhörer auf und spielte ihre Lieblingsmusik zum Nachdenken ab. Nach ein paar Stunden wurde ihr plötzlich klar, dass sie einfach weg von sich selbst wollte. Sie wollte ins Wasser springen und dort für immer versinken. Diese Nacht war wahrhaft besonders.

In ihrem Gedankenstrom kam sie zu einem interessanten Schluss: „Es bleibt nur noch, die schwierigste Entscheidung ihres Lebens zu treffen oder in den Abgrund zu treten und sich für immer zu verlieren oder einen Schritt in ihre leuchtende Zukunft zu machen“, wozu sie keine Lust hatte.

Und als die Gedanken ihre Atmung erdrückten, hörte sie, wie jemand sie rief, hörte sie ihren Namen: Alice. Sie drehte sich um und sah niemanden, sie dachte zuerst, sie hätte es sich eingebildet, aber nach ein paar Augenblicken hörte sie wieder jemanden ihren Namen rufen. Dieses Mal erkannte sie die Stimme, die sie rief. Es war die Stimme aus ihrer Vergangenheit. Aus ihrer schmerzhaften und quälenden Vergangenheit. Sie konnte diese Stimme unter Tausenden erkennen.

Es war die Stimme eines Menschen, der seit einem halben Jahr wegen ihres Aufenthalts in einem anderen Land nicht mehr am Leben ist. Tränen liefen über ihre Wangen, als ob nicht nur draußen, sondern auch in ihrer Seele der September angebrochen wäre.

Sie war Schriftstellerin, und in diesem emotionalen Impuls begann sie zu schreiben. Die aufrichtigsten Zeilen. Sie schrieb ein Gedicht, in dem sie ihren Schmerz ausdrückte.

Das Gefühl des ErwachensUnd sogar hier, in der Menge,
Ohne Menschengesichter
Denke ich nicht an mich
Über das Überwinden von Grenzen
Und was? Und was soll ich hier machen?
Leben und auf den Moment warten
Einfach hier und da rennen
Auf die Worte des Präsidenten warten.“


Als die Emotionen nachließen, wurden ihre Gedanken erneut von ihrem Verstand erfüllt. „Es ist Zeit, eine Entscheidung zu treffen“, entweder diesem Ruf folgen und über den Dächern der Häuser wie ein Wind schweben oder ihr Leben weiterführen, aber als völlig anderer Mensch.

Am nächsten Morgen, wenn die Zeitungen die ganze Wahrheit geschrieben und jedes Ereignis in dieser Stadt beschrieben hätten, hätte es die Schlagzeile gegeben: „Eine junge Frau ist letzte Nacht im Fluss ertrunken, und niemand konnte ihren Körper finden.“

Die vergangene Alice ist tatsächlich gestern in diesem Fluss ertrunken, und heute Morgen als eine völlig andere Frau erwacht, eine Frau mit Träumen und Zielen, eine Frau, die weiß, was sie wirklich will, und nun beginnt ihre Lebensgeschichte von Neuem.

Beginnt mit dem Prolog.

Denn nur derjenige, der nichts zu verlieren hat, kann ein neues Leben beginnen.

Erster Schritt. Erstes Lächeln. Die Augen.
Erste Berührung. Erstes Gefühl. Die Sympathie.
Erste Frage Erste Antwort. Das Untertauchen.
Erstes Date. Erste Liebe. Die Magie.

Die Zeit verbringen. Das Leben genießen.
Neues entdecken. Das Ziel erreichen.
Die Liebe bauen. Den Traum vereinen.

Erster Stein. Erster Schmerz. Die Gabelung.
Erster Streit. Erste Eifersucht. Der Bruch.
Erster Schrei. Erste Tränen. Die Veränderung.
Die Lauheit. Der Abschied. Beendet das Buch.

Ein kaltes Bett. Das leere Zimmer.
Nur eine Tasse. Die Vergangenheit.
Zu viel Nachdenken. Das Fernsehen flimmert.
Wo ist die Liebe? Die Einsamkeit.

Erster Schritt. Die Möglichkeit. Gebrochene Flügel.
Zweiter Schritt. Das Bewusstsein. Ein neues Leben.
Dritter Schritt. Erstes Lächeln. Der reparierte Spiegel.
Der letzte Schritt. Ein neues Ziel. Aufleben.

Erster Schritt…

Valeriia Karpova

Jeder Mensch muss durch Schwierigkeiten gehen. Auf seinem Weg werden sowohl guten als auch schlechten Menschen begegnet. Die Gesellschaft ist oft unfair und fungiert manchmal wie ein Richter ohne Gesetze. Nur der Mensch muss entscheiden, was im Leben am wichtigsten ist. Die Meinung der Gesellschaft oder das eigene Glück? Leider gibt es in unserer Welt einige Menschen, die dein Potenzial zerstören wollen. Höre nicht auf sie. Erinnere dich an deine Träume, deine Ziele und deinen Weg. Manchmal wirst du aufgeben wollen, und das ist normal. Manchmal wirst du weinen wollen, und das ist okay. Erlaube dir, deine Gefühle zu zeigen. Vielleicht ändern sich deine Ziele und Pläne im Laufe der Zeit. Sei geduldig mit dir selbst. Sei gut zu dir selbst. Du bist ein Mensch und hast Gefühle. Vergiss das bitte nicht.

Wenn ich an mein Heimatland denke, fühle ich positive Emotionen und Freude, aber manchmal erlebe ich aufgrund der aktuellen Situation in meinem Land sehr negative Emotionen.

Oftmals, um negative Emotionen loszuwerden, brauche ich mich mit meinen Freunden oder meiner Familie sprechen, aber das hilft nicht immer zu 100 Prozent. Aber ich habe für mich ein paar Methoden gefunden, die mir helfen. Das sind Gedichte schreiben und Sport.

Als meine Stadt bereits besetzt war und feindliche Soldaten alles, was mir lieb war, zerstörten, begann ich jeden Tag zu schreiben. Ich schrieb meine Gedanken, meine Gefühle, meine Emotionen auf. Ich schrieb einfach jeden Tag, um es mir ein wenig leichter zu machen. Und jetzt kann ich ein paar Zitate aus dieser schrecklichen Zeit vorbringen:

„Wir werden die Angst in die dunkelste Ecke drängen“

„Mögen wir stark sein wie die Natur, die trotz der Umstände unsere Herzen mit den sanften Strahlen der Sonne erfreut“.

Jetzt gehe ich ins Fitnessstudio und höre dort Lieder, die ich mit den schwierigsten Momenten meines Lebens assoziiere. Dann steige ich auf das Laufband und beginne so schnell zu laufen, wie ich kann.

In solchen Momenten steigt mein Puls, mein Herz rast und mein Atem gerät außer Kontrolle, aber dennoch kommt Ruhe in meine Seel.

Es ist cool, wenn du über deinen Traum nach der langen Nacht erzählen kannst.
Es ist unglaublich, jedoch irgendwer interessiert sich für das, was du zum Frühstück gegessen hast.
Wenn du deine Probleme allein im dunklen Zimmer durchdenkst, aber sie jemand hören möchte.
Es ist cool, wenn du Wörter wie „Einsamkeit, Traurigkeit, Depression“ zu vergessen anfängst.
Alles in deinem Leben ist schön. Du bist schön. Dein Lächeln ist die beste Sache der ganzen Welt. Deine Liebe kann den Schnee auf den Blumen herunter schmelzen.
Dein Leben ist ein Geschenk.
Bitte vergiss es nicht.

Valeriia Karpova 

In Zeiten des Verrats und der Lüge,
Wo Schmerz uns quält und Herzen betrügt,
Zerbricht das Leben in tausend Teilen,
Schlaflosigkeit lässt uns verweilen.
Doch in dieser Dunkelheit ein Licht,
Freundschaft, Stark und sichre Sicht
Sie trägt uns durch die schweren Zeiten,
Stärkt uns, öffnet neue Weiten.
Man kann immer, sogar in der Nacht,
Seine Seele öffnen und ausschütten,
Gewinnen wir jeden Krieg und Kampf.
Wir fühlen uns unterstützt.
Gemeinsam gehen wir durch Sturm und Regen,
Hand in Hand, Seite an Seite, bewegen wir uns.
Freundschaft, die uns Hoffnung schenkt,
Die uns verbindet, stark und unverwehrt.

Valeriia Karpova 

Die Natur ist eine große Kraft und die zarteste Kunst, in der jeder sein Ideal finden kann. Die Natur ist ein ewiger Widerspruch und Gegensatz. Chaos und Harmonie. Apathie und Streben. Leidenschaft und Gleichgültigkeit. Erlösung und Bestrafung.

Um jede Seite und jeden Teil der Größe der Natur zu beschreiben, reichen keine Worte aus. Wie die Anzahl der Sterne ist dies eine unendliche Ansammlung von Worten, die sich in die längste Erzählung der Menschheitsgeschichte verwandelt. Doch um dem Leser meine Gedanken zu vermitteln, nutze ich nur einen Monat. Nur ein einziges Sandkorn aus der Fülle.

Die Jahreszeit: Herbst. Der Monat: Oktober.

Und dennoch ist der Oktober ein besonderer Monat. Er begräbt wahrhaftig den Sommer in unseren Herzen und nimmt die Wärme von den Straßen. Im Gegenzug bedeckt er die Wege mit seinem Gold, damit die Menschen den Beginn der Kälte weniger traurig empfinden. Der Herbst verleiht der Liebe einen neuen Geschmack, indem er Beziehungen auf die Probe stellt.

Dieser Monat kann als Grenze vor der Zeit des grauen Himmels, des vom Regen durchnässten Bodens und der Herbstdepressionen betrachtet werden. Oktober ist die Zeit, in der es scheint, als sei der Sommer schon so lange her, dass die glücklichen Momente allmählich aus dem Gedächtnis verblassen, als ob viele Jahre vergangen wären und man sich die Erinnerungen an vergangene Tage nur noch bruchstückhaft zusammenfügen könnte. Es ist die Zeit für Serien, heißen Tee, warme Mäntel und traurige Gedichte.

Eine Zeit, die alles an seinen Platz rückt. Eine magische und zugleich quälende Zeit, in der man auf Wärme wartet, und dabei ist nicht nur die Temperatur draußen gemeint.

Nur ein einziger Schlag von Mutter Natur, und unsere Empfindungen ändern sich völlig. Unser Leben folgt einem neuen Drehbuch, ob wir es wollen oder nicht.

Wir sind völlig abhängig. Selbst der einflussreichste Mensch auf der Erde ist nichts im Vergleich zu einem einzigen Regentropfen. Grob, aber wahr.

Ein einziger Tropfen kann retten, kann aus einem kleinen Samenkorn neues Leben erschaffen, das zu einem fruchtbaren Baum heranwächst. Dieser wird wiederum viele Jahre lang mehrere Menschen ernähren. Und alles begann mit einem einzigen Tropfen.

Ich kann sicher sagen, dass die Natur das Leben selbst ist.


Valeriia Karpova

Wie ist es, in ständiger Angst zu leben, im Kampf mit sich selbst – eingesperrt in einem Käfig, den man sich selbst gebaut hat?

In dieser Geschichte tauchen wir ein in das Leben eines jungen Mädchens, das versucht, ihr Schicksal zu verändern – oder wenigstens den ersten Schritt in die Freiheit zu wagen.

Dieses Gefühl, wenn du aus dem Gefängnis fliehst, in dem du mehr als zwei Jahre gesessen hast, die Fesseln abstreifst, die bereits Narben und rote Spuren um deinen Hals hinterlassen haben. 

Der Fluchtplan ist perfekt.

Alles ist bis ins kleinste Detail durchdacht.

Es bleibt nur, ein paar Augenblicke zu warten, und dann kann man handeln.

Der Sicherheitschef hat bereits seine Wachsamkeit verloren und wird sich gleich schlafen legen.

Die Hunde draußen sind längst satt und haben kein Verlangen mehr, irgendjemandem hinterherzulaufen.

Sie haben schon vergessen, wann sie das letzte Mal Häftlinge bis zum Tor jagten, begleitet von wildem Bellen.

Alles um einen herum ist erstarrt, und die Stille, die auf die Ohren drückt, vermittelt das Gefühl völliger Windstille. 
Alles ist in einen Winterschlaf verfallen, und wenn man während des täglichen Spaziergangs draußen steht, kann man den Schlag des eigenen Herzens hören – das verzweifelt versucht, aus dieser Gefangenschaft zu entkommen.

Das Wetter schien dem Gefangenen bei seinem Traum helfen zu wollen.

Also…

Schritt eins

Jede Ecke dieses Ortes einprägen.

Jeden Eingang, Ausgang, jedes Gitter, jeden Riss in der Wand, den Ort, an dem eine Spinne ihr Netz webt und vorbeifliegende Insekten fängt.

Schritt zwei

Den Zeitplan des Aufsehers, der Wächter und natürlich des Gefängnisdirektors minutengenau kennen. Wann sie Dienst haben, wann sie sich zum Mittagessen an den Tisch setzen. Wann sie zum Rauchen hinausgehen. Wann sie schlafen gehen.

Schritt drei

Auf ein Scheitern vorbereitet sein und verstehen, dass man das verlieren kann, was man jetzt hat. 

Schritt vier

Alles bei sich haben, was man brauchen könnte. Das bedeutet, alles zurückzulassen, was hier war. In die Freiheit zu treten heißt, ganz von vorn anzufangen.

Man muss die Vergangenheit loslassen und nicht mehr so leben wie früher.

Also, der Ausbruch beginnt genau um 19:00 Uhr.  Ab dann gibt es genau eine Stunde.

Bis 20:00 Uhr findet der Schichtwechsel der Aufseher statt. In den letzten zwei Jahren gab es keine erfolgreichen Fluchten – entweder hat es niemand versucht, oder sie wurden sofort geschnappt. Und jetzt haben die Gefängnismitarbeiter ihre Wachsamkeit verloren. Aber heute wird es passieren. Es ist Zeit, auszubrechen.

18:40 Uhr

Ich verhalte mich, als wäre nichts. Die Wächter haben vor dem Schichtwechsel ihre Runde gemacht und sichergestellt, dass alles in Ordnung ist.

18:58 Uhr

Der letzte Wächter warf noch einen letzten Blick auf den Zellenflur und ging mit völlig gelassener Miene in seinen wohlverdienten Feierabend.

19:00 Uhr

Start.

Nur eine Stunde. Ich muss vorsichtig die Zelle verlassen. Das Schloss ist bereits geschwächt. Zwei Monate täglicher Mühe waren nicht umsonst. Mit einer gleichmäßigen und gleichzeitig schnellen, geräuscharmen Bewegung muss ich den letzten Schlag gegen die Stahlfläche ausführen. Es ist Zeit, das zu zerstören, was zwei Jahre lang meine Behausung war. Es ist beängstigend. Vor dem ersten Schritt lähmte mich die Angst, und wie gelähmt war meine Hand nicht einmal fähig, sich zu einer Faust zu ballen.

19:04 Uhr

Verlust kostbarer Zeit. Jede Minute zählt.

19:10 Uhr

Immer noch in der Zelle, schoss mir ein Gedanke durch den Kopf… „Brauche ich das überhaupt?“ Ja, hier ist es schlimm. Aber beständig. Und da draußen… Ungewissheit. Wie soll man ein neues Leben beginnen?

19:15 Uhr

Aus Hoffnungslosigkeit sanken die Hände herab. Im Zorn auf mich selbst, als rückgratlosen Menschen, zuckte die Hand von allein – als hätte sie all die Wut durch die Gefäße, die Venen und die Haut hindurch getragen.

19:17 Uhr

Ein Klicken war zu hören. Die Zelle ist offen.

19:18 Uhr

Der erste Schritt nach draußen. Eine Minute verging im Schockzustand.

19:19 Uhr

Lageerkundung. In den Korridoren herrscht Stille. Eine Stille, in der man hören kann, wie das Herz schnell und aufgeregt schlägt – als wolle es einen von weiteren Schritten abhalten.

19:23 Uhr

Langsam, wie eine Katze, ging ich durch den leeren, schlecht beleuchteten Flur, und als eher ängstlicher Mensch ließ mich der Gedanke nicht los, dass jeden Moment die Wärter früher zurückkommen könnten, dass jemand etwas hören oder sehen würde… dass sie mich erwischen und zurück in die Zelle schleifen würden, in den Käfig. Nur dass die Bedingungen jetzt viel schlimmer wären. Und zurück konnte ich nicht mehr – das Schloss war zerstört. Dafür eine logische Erklärung wie „es ist von selbst passiert“ zu finden, wäre schwierig. Ich muss es riskieren. Schließlich… wenn es nicht klappt, werde ich wenigstens wissen, dass ich es versucht habe. Im Gefängnis verrotten kann man immer noch, aber die Chance, alles zu ändern und von vorn anzufangen – die könnte nie wieder kommen. Und außerdem wird die neue Schicht die Glühbirnen austauschen. Wieder zu warten, bis die neuen im Zustand „halten noch einen Tag“ sind – das dauert zu lange.

19:28 Uhr

Als ich das Ende des beleuchteten Bereichs erreichte, überkam mich das unbezwingbare Gefühl, dass jemand in der Dunkelheit auf mich wartete – und als würde dieser Jemand lachend nur darauf gewartet haben, dass ich fliehe, um sich im letzten Moment über mich lustig zu machen. 

In meinem Kopf hallten bereits die Worte eines Unbekannten: „Du wirst hier niemals rauskommen. Und für den Ausbruch wirst du bestraft. Deine jetzigen Bedingungen werden dir wie das Paradies erscheinen im Vergleich zu dem, was dich erwartet.“

Doch trotz der aufkommenden Unruhe war es jetzt zu spät, um stehenzubleiben. 

Ist es Zeit, einen Schritt in die Dunkelheit zu machen und hier rauszukommen? Ich habe nicht einmal die Gewissheit, dass es funktionieren wird.

Entweder ich komme heute raus und werde ein freier Mensch, oder ich mache alles nur noch schlimmer als zuvor – und wer weiß, ob ich je wieder auch nur einen Lichtstrahl von einer Glühbirne sehe, geschweige denn von der Sonne.

19:30 Uhr

Ein Schritt in die Dunkelheit.

„Ich sehe nichts. Gar nichts. Absolute Dunkelheit.“

Es fühlt sich an, als hätte ich auf einen Schlag mein Augenlicht verloren. Völlige Hoffnungslosigkeit.

Stille. Nicht einmal die innere Stimme im Kopf ist zu hören. Verlust des Gehörs?

Leere. Um mich herum scheint nichts zu existieren. Es ist unmöglich, mit den Händen irgendetwas zu erreichen. Wie soll ich den nächsten Schritt machen? Nichts ist da, der Verlust aller Empfindungen. Die Sinne scheinen ausgeschaltet. Selbstverlust?

Und doch: Das Heben des Beins für einen Schritt erwies sich als völliger Fehler. Der Schmerz, der durch meinen Körper fuhr, ließ mich an der Richtigkeit meiner Entscheidung zweifeln. Schmerz, als würde jemand auf einer Violine aus Nervenenden spielen. Gespannte Nerven dienen dem Meister als Saiten und mein Körper ist das Instrument. Jeder Versuch, sich zu bewegen, könnte eine betörende, aber grausame Melodie hervorrufen.

Die Zeit schien stillzustehen und gleichzeitig wahnsinnig schnell zu vergehen – fast mit Lichtgeschwindigkeit, jede Sekunde zerstörte die Hoffnung auf Rettung. Aus Hoffnungslosigkeit erstarrte mein Körper wie eine Statue aus Stein, die ein Bildhauer über viele Jahre geschaffen hatte, und nun – wie die berühmte Medusa – sollte sie gleichzeitig Schrecken einflößen und Bewunderung für das Werk des Künstlers hervorrufen.

***

„Wie bin ich hierher gekommen…?“

Meine Augen öffneten sich, als ob nach einem langen Winterschlaf in dem der Traum echter war, als die Realität selbst, als ob ein Bär nach dem Winter die erste Frühlingsblume sieht und das Rascheln der gerade erblühten Blätter an noch kalten Bäumen hört.

Ein Gefühl, als würde dich am frühen Morgen dieser erste Lichtstrahl der erwachten Sonne wecken – leicht blinzelnd möchte man wieder in die Träume eintauchen, aber der Tag hat schon begonnen und die Frische lässt keinen Rückweg in den seligen Schlaf zu.

Dieser Sonnenstrahl war ein Mann in olivfarbenen Hosen und einem hellen Hemd, über seinen Schultern lässig ein weißer Arztkittel geworfen, was deutlich darauf hinweist, wer dieser Mann ist.

Ein weißes, geräumiges Büro, große verschlossene Fenster und sanfte beigefarbene Vorhänge verliehen diesem Ort einen gewissen Charme.

Der Mann saß in einem braunen Sessel und durchbohrte mich mit seinem Blick so intensiv, dass mir eine Gänsehaut über die Haut lief.

Guten Tag. Wie haben Sie heute geschlafen? – fragte der Mann mit einer Brille in grobem Gestell und leichtem Bartschatten. In seiner Hand hielt er ein Notizbuch und einen Stift, der seit zehn Minuten unbewegt zwischen den Fingern seiner leicht erhobenen rechten Hand lag.

Guten Tag. Gut. – Die junge Frau lächelte, und ihr liebreizendes Gesicht ließ vermuten, dass alles in Ordnung war und es sich lediglich um ein herzliches Gespräch alter Freunde handelte. Doch leider verbarg ihr Lächeln etwas Schreckliches, das ihr nicht erlaubte, auch nur für ein paar Minuten die Augen zu schließen oder sich dem Tor zur Welt des Morpheus zu nähern. Das Einzige, was sie sich leisten konnte, war, sich heimlich ein Ticket in die erste Reihe, in die VIP-Loge, bei einem Schwarzmarktverkäufer zu „kaufen“. Aber es gab ein kleines Problem… diejenigen, die sich gewöhnlich so den Eintritt „kauften“, konnten später nicht einfach gratis zurück. Es war kein Geheimnis, und doch verbarg sie ihre wachsende Abhängigkeit mit aller Kraft – damit niemand es wagte, ihr dieses Ticket wegzunehmen.  Abhängigkeit von Medikamenten, Tropfen, Injektionen – als eine Art, der Realität zu entfliehen.

Gut. Sie haben gestern Abend ein Beruhigungsmittel genommen, richtig? Man hat mir gesagt, dass Sie um eine Tablette gebeten haben – ich zitiere: „wegen einer sich anbahnenden Panikattacke“. Wie haben Sie das gespürt?

Ja, ich hatte Angst um mein Leben, ich versuchte mich zusammenzureißen… es hat nicht geklappt. – Die Frau sagte die Wahrheit, ließ jedoch ein Detail aus: Sie hatte schon lange keine Angst mehr vor Panik. Sie kannte dieses Gefühl viel zu gut. Sie hatte sich so sehr daran gewöhnt, dass sie keinen Sinn mehr darin sah, dagegen anzukämpfen. Das Einzige, was sie nicht unter Kontrolle hatte, war der Schlaf. Aber… einfach so bekommt man die ersehnte Dosis nicht, denn alle Mittel gegen Schlafstörungen wirkten längst nicht mehr. Das Einzige, was noch ein Gefühl von Erleichterung brachte, waren die örtlichen Beruhigungsmittel. Die Dosen waren klein. Manchmal setzte das Mädchen eine ganze Tablette wie ein Puzzle zusammen. 

Hm… – Der Mann öffnete ein scheinbar dickes Notizbuch und fuhr fort: – Laut dem Medikamentenprotokoll und Ihrer Geschichte – sagte er nachdenklich, während er die Seiten unter dem aufmerksamen Blick der jungen Frau durchblätterte – helfen Ihnen diese Tabletten nicht.

Ein Kloß im Hals schnürte der jungen Frau die Luft ab, und in ihrem Inneren zog sich alles zusammen vor dem erwarteten Urteil. Sie wusste, dass ihre – wie sie dachte – harmlose Täuschung irgendwann auffliegen würde. Und dann… was dann? Das wusste sie nicht.

Vielleicht haben Sie recht… – sagte sie und zuckte mit den Schultern. In ihrem Gesicht lag Verzweiflung und Leere. Man hätte meinen können, sie sei enttäuscht darüber, dass die Behandlung nicht wirkte und sie sich wünschte, endlich aufzuhören, die Tabletten wie Wasser gegen Durst zu schlucken. In Wahrheit aber war sie verzweifelt, weil sie befürchtete, ihre „Dosis“ nicht mehr zu bekommen.

Ich denke, wir sollten die Dosierung erhöhen oder das Medikament insgesamt durch ein stärkeres Ersetzen. – Der Mann runzelte die Stirn und warf erneut einen Blick auf die Frau. In seiner Brust zog sich alles zusammen – er war aufrichtig überzeugt, dass sie es wirklich brauchte, denn ihre Dämonen quälten sie in Form von Panikattacken.

Ich hoffe, dass es hilft. – Als sie diese Worte sprach, erinnerte sie an jemanden, der auf dem Bahnsteig eines großen Bahnhofs lange nach einem vertrauten Menschen suchte – und schließlich eine bekannte Silhouette entdeckte. 

Gut. Dann werde ich darüber nachdenken, und du geh jetzt ein wenig ruhen. Wenn du etwas brauchst, kannst du dich jederzeit an mich oder das medizinische Personal wenden. Und wenn du einfach nur reden willst – zögere nicht. Egal worüber. Einverstanden?

Ja. – Sie lächelte und wollte gerade von ihrem Platz aufstehen.

Elis. Vergiss nicht, wer du bist. – Der Arzt hielt sie mit diesem Satz auf und vertiefte sich dann wieder in seine Unterlagen.

…. – Sie nickte nur und verließ das Büro.

***

Für ein paar Minuten schien die Frau wie abgeschaltet. Diese Episode überrollte sie wie eine Welle aus Erinnerungen, und ihr Körper war weiterhin wie gelähmt.

Nicht einmal dieses unheimliche weiße Rauschen war zu hören – absolute Stille.

Die Zeit… das Zeitgefühl war verschwunden und hatte nicht einmal ein Sandkorn zurückgelassen, um eine Sanduhr zu formen und jede Sekunde mit fallendem Sand zu messen. Kein einziger Sonnenstrahl, kein Licht, nichts.

Es schien, als hätten selbst die eigenen Gedanken ihr chaotisches Treiben eingestellt – es gab einfach nichts mehr. Es war die letzte Chance, etwas zu verändern. Die Frau versuchte, eine ihrer Hände zu heben.

Die Wahl fiel auf die rechte. Doch der Versuch blieb erfolglos. Kein Schmerz – aber eine lähmende Angst. Das Herz raste wie verrückt, Adrenalin strömte durch die Adern, die Augen waren fest zusammengekniffen, und es fehlte der Mut, überhaupt in die Dunkelheit zu blicken. In diesem Moment schien es, als wäre die Bewusstlosigkeit das Beste, was ihr passieren konnte.

Die Frau schloss für den Bruchteil einer Sekunde die Augen – das war ein totaler Fehler.

„Was passiert?“ – die Frage zuckte wie ein Blitz durch ihren Kopf und hallte nach, als hätte jemand in der Nähe sie laut ausgesprochen.

– Alice. An was erinnerst du dich? – Die Stimme des Mannes riss die junge Frau aus ihren Gedanken, aus ihrer eigenen Realität.

– Was? – Sie schien aus einem langen Schlaf zu erwachen und sah endlich die Tür nach draußen.

– Alice. Schau mich an. – Die Stimme forderte sie eindringlich zum Handeln auf.

– Ja? – Die Frau hob ihren leeren Blick und spürte, dass sie sich am liebsten wieder in sich selbst zurückziehen würde, sich verstecken, sich wie ein Igel zusammenrollen wollte – so, dass ihre Stacheln jeden abwehren würden, der ihr schaden oder sich ihr nur nähern wollte.

– An was erinnerst du dich? Warum bist du hier? – fragte der Arzt besorgt. – Erinnerst du dich, was passiert ist?

– Ja, natürlich… ich hatte eine schwere Zeit. – Sie schien diesen Text abzulesen, suchte mit den Augen nach Buchstaben auf dem kalten Boden, hoffte auf eine Geste des Souffleurs, eine Bestätigung, dass ihre Worte richtig waren.

– Nein. Das höre ich jetzt seit zwei Monaten. – Der Mann sah ihr direkt in die Augen und fragte mit einem Ausatmen: – Was hat dir Angst gemacht?

– Sie wissen doch… ich war mir sicher, dass ich sterben würde… – Alice senkte nur den Blick. Da war ein Wort, das sie nicht aussprechen konnte.

– Du warst dir sicher… dass du sterb…

– Ja. – antwortete sie kurz, ohne ihm die Gelegenheit zu geben, den Satz zu beenden.

– Hattest du viele solcher Momente? Was erinnerst du dich?

– Ich verstehe nicht… ich erinnere mich daran nur, dass es furchtbar war.

– Alice, wann war deine Familie in Lebensgefahr?

– Ja… – ja.

„Ja.“

„Und jetzt vielleicht auch.“ – ein Blitz durchzuckte ihren Körper. Der nahende Sturm aus Gedanken, Erinnerungen und Panik fühlte sich an, als säße Alice in einem kleinen Holzboot mitten im riesigen Ozean und starrte auf einen Tsunami, der im Begriff war, sie zu verschlingen und das Boot zu zerstören. Aus der Hoffnungslosigkeit heraus wusste Alice nicht, ob es überhaupt einen Sinn hatte, sich zu retten oder zu versuchen, unter die Welle zu tauchen, um sich eine Überlebenschance zu geben. Sie saß einfach da und blickte ihrem bevorstehenden Schicksal entgegen. Äußerlich ruhig, innerlich voller eisiger Angst.

Ihr Herz raste wie verrückt, die Angst lähmte sie, und es fühlte sich an, als wäre das das Letzte, was Alice in diesem Leben sehen würde. Nur diese dumme Dunkelheit, die mit jeder Sekunde mehr das Sonnenlicht verschlang und jede Zelle, jedes Atom mit „Nichts“ füllte.

Die Leere umhüllte sie, und sie wurde selbst zur Leere.

Noch eine Sekunde – und sie würde sich im Wasser auflösen, der Ozean würde ihre Seele mit sich nehmen, und sie würde für immer über den Meeresgrund wandern.

„Was passiert mit mir?“ 

***

– Alice! – ertönte eine vertraute, fast schon verwandte Stimme irgendwo jenseits der Welle, was sie aus der Unvermeidlichkeit herausriss.

– Wenn du schlafen gehst, dann leg dich an den Rand des Bettes, ja? Falls etwas passiert, fällst du auf den Boden und kannst zum Ausgang kriechen. – Die Frau streichelte  ihre Tochter über die Schulter und zeigte mit der Hand auf den Ausgang zum Keller, wo sich Alice mit ihrer Familie vor dem Dröhnen der Explosionen draußen und dem Pfeifen der Raketen versteckte.

– Ja, Mama… – ein Satz, in dem Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit mitschwangen.

Lärm und ein Dröhnen in den Ohren erfüllten ihr ganzes Wesen und zwangen sie zum Handeln.

„Genug!“

Ein Schrei brach aus ihrer Brust – und zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit hörte sie ihre eigene Stimme.

Ihre Hand schnellte ruckartig nach oben.

Der erste Schritt. Der erste Schritt nach draußen, der erste Schritt zu einer echten Flucht. Der erste Schritt zur Freiheit.

Als sie das Bein zum nächsten Schritt hob, erstarrte ihr Körper erneut vor Angst, und ihr Unterbewusstsein zeigte ihr wie in einem Film Szenen, eine Kinoleinwand voller Bilder…

Vor ihrem Gesicht erschien der Bildschirm eines Handys mit einem Chatverlauf.

„Ich liebe dich“ – die SMS war immer noch nicht abgeschickt.

Möge das Letzte, was bleibt, ein Wort der Liebe sein.

Einer Liebe, in der es keine Wahrheit gab.

Am wichtigsten waren die Worte, die den vergangenen Lebensjahren einen Sinn verleihen konnten.

Eine junge Frau, die im Flur saß, den Blick auf eine Tür gerichtet, die jeden Moment herausgerissen werden konnte; sie hob den Kopf zur Decke, die jeden Moment einstürzen und das Lachen der Hausbewohner für immer auslöschen konnte.

Das erste Grollen ließ alle aufschrecken und im Entsetzen erstarren.

Im Kopf wiederholte sich das Dröhnen der Explosion und das Gefühl, vom Bett zu stürzen.

„Möge das Letzte, was bleibt, ein Wort der Liebe sein.“

Zwei Stunden lang lag der Finger über der „Senden“-Taste – und wartete nur auf den richtigen Moment.

***

Der zweite Schritt ins Leere. Augen, die zusammengekniffen waren, öffneten sich erneut, und genug Luft strömte in die Lungen, damit man den tiefen Atemzug des jungen Mädchens hören konnte.

Schwer und gleichmäßig atmend spürte Alice, dass ihr Körper scheinbar keine Schmerzen mehr empfand – und sich nach vorn warf.

„Ich glaube, ich sehe Licht.“ – ein Gedanke, der Hoffnung schenkte, fühlte sich an wie eine sanfte Brise mitten in einem beruhigenden Ozean.

Ihre Hand griff nach etwas Festem, mit einem kleinen Loch, aus dem ein sanftes Licht drang. Für einen Moment atmete sie aus – und erinnerte sich an Worte der Hoffnung.

***

– Es ist schon Morgen. Hörst du? Diese Nacht war nicht die letzte. – Die warmen, leisen Worte der Mutter brachten das Gefühl eines Frühlingswinds im Mai, der den süßen Duft frisch erblühter Blumen verbreitet.

***

Mit großer Anstrengung begann Alice, die Tür zu öffnen. Sonnenstrahlen drangen durch das Gusseisen und fraßen förmlich die Dunkelheit in ihrem Herzen.

„Licht“ – das Wort, das auf ihren Lippen und Gedanken stehenblieb.

Die Frau machte den entscheidenden Schritt – und fand sich außerhalb der Gefängnismauern wieder.

Keine Hunde, keine Aufseher, keine Wächter. Niemand.

Keine Gefahr, keine Panik, kein Sturm.

Nur die Sonne im Zenit und eine Welt, die bereit war, ihr eine neue Chance zu schenken.

– Danke, dass du das mit mir geteilt hast. – Der Mann warf einen Blick auf die Uhr. Es war genau 20:00 Uhr. Die Therapiestunde endete wie immer mit Fragen zu Alices Zustand.

Doch diesmal spürte der Psychotherapeut, dass Alice so ehrlich war wie nie zuvor.

Sie hatte von ihren Problemen erzählt, von dem Gefühl, eingesperrt zu sein – in einem Gefängnis, das aus ihrer eigenen Erinnerung bestand, das sie quälte und mit Panik überzog, jedes Mal vor dem Einschlafen, jedes Mal wenn sie an die Albträume der Kriegszeit dachte.

– Wie fühlst du dich jetzt? – fasste der Therapeut zusammen.

– Frei. – sagte sie beim Ausatmen.

Die junge Frau, als hätte sie zum ersten Mal die Augen geöffnet wischte sich die Tränen ab und stand von dem Stuhl auf, auf dem sie zwei Jahre lang jeden Mittwoch gesessen hatte.

Zum ersten Mal lächelte sie aufrichtig. Ihre Augen waren geschwollen von der Heulattacke, ihr Gesicht gerötet. Die Hände zitterten.

Sie fühlte sich unglaublich erschöpft – aber unendlich glücklich.

– Danke. Ich glaube, das war unser letztes Treffen. Ich habe das Gefühl, ich brauche keine Sitzungen mehr. Und das ist wundervoll. – Sie lächelte erneut.

Als Alice das Büro des Psychologen verließ, spürte sie in ihrer Tasche die alten Tabletten.

Beim Verlassen des Gebäudes ging sie zum nächsten Mülleimer und – während sie in der Hand ihr ehemaliges „Heilmittel“ hielt – öffnete sie mit einer leichten Bewegung die Faust.

Die Pillendose fiel mit einem lauten Geräusch auf den Boden des Mülleimers.

Freiheit.

Valeriia Karpova