Zahra Hajzadehgharehshiran

Über mich:

Zahra Hajzadehgharehshiran, geboren 2005, in Teheran. Im Alter von 16 kam sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Ihre Migration war Wahl und Entscheidung ihrer Familie. Sie hofft, sich an die neue Situation und Verhältnisse sowie ans Leben in Deutschland gewöhnen zu können.

Originaltext

Übersetzung

1. Der Schock der Einsamkeit

Heute schreibe ich diese Notiz für dich; es ist es fast ein Jahr her, seit ich hierher migriert bin. Nach der Migration fühlte ich mich sehr einsam und allein, müde und nervös. Aber ich habe inzwischen versucht, durch das Verbringen meiner Zeit mit dem Unterricht, den Kursen und schulischen Aufgaben einen Teil meiner Müdigkeit und Einsamkeit zu lindern. Aber ich habe immer noch keinen Weg gefunden, um mit meiner Nervosität umzugehen. Es ist sogar neulich noch schlimmer geworden und jetzt, wenn ich zu aufgeregt bin, fließen mir plötzlich leicht die Tränen über die Wangen.

Genau wie vor sechs Monaten, als ich sehr müde drei Stunden Mathe und eine Stunde Geschichte hatte und dann im Physikunterricht saß.

Unser Physiklehrer war ausgetauscht worden; der des letzten Jahres war wegen der Entfernung seines Hauses von der Schule gegangen und dies war unsere erste Stunde mit der neuen Lehrerin. Und was für eine Lehrerin sie war! Seitdem sie den Klassenraum betreten hatte, hatte sie kein einziges Lächeln für jemanden übrig. Sie legte ihre Tasche fest auf den Tisch und ließ mit einem lauten Klappern das Schweigen in der Klasse herrschen. Dann schrieb sie ihren Nachnamen in großen Buchstaben in die Mitte der Tafel. Mit ihren dünnen, faltigen und groben Händen zog sie ihre Brille hoch und begann mit der Anwesenheitskontrolle sowie dem Kennenlernen der Schüler. Ich wusste bereits, wenn sie zum vierten Namen kommt, würde sie beginnen, den Betreffenden, nämlich mich, zu fragen: Warum ist dein Nachname so lang? Wie spricht man ihn aus? Usw… Sie begann, die Namen und Nachnamen der Schüler zu lesen. Die ersten drei auf der Liste waren deutsche Schüler und die Lehrerin las ihre Namen mit einem freundlichen Lächeln vor. Es dauerte nicht lange bis die Reihe an den Vierten, an mich kam. Sie versuchte meinen Nachnamen mit einem starken deutschen Akzent auszusprechen und zeigte mit dem Zeigefinger auf die Buchstaben, um Aufmerksamkeit zu erregen und ihn gleichzeitig leichter aussprechen zu können.

-„Es dauert einen ganzen Tag, deinen Namen zu schreiben“, sagte sie mit lauter und trockener Stimme. Nachdem diese stockernste und mürrische Dame diesen Satz gesagt hatte, lachte sie laut, dann schüttelte ihren Kopf und sagte: „Ich weiß nicht, warum du jetzt zwischen diesen vierzehn Schülern sitzt? Man hat mir gesagt, dass die Einwanderer für die zehnte Klasse in einem separaten Klassenzimmer sein sollen. Was machst du zwischen diesen vierzehn, du Haaadjjjj?“

Nachdem sie den ersten Teil meines Nachnamens wiederholt hatte, gab sie wieder ein einzelnes, verächtliches Lachen von sich und wandte sich den Anderen zu. Ich war nicht darüber verärgert, dass sie meinen Nachnamen nicht richtig aussprach; ferner war ich darüber verärgert, dass sie sich erlaubte, meinen Nachnamen vor allen Schüler*innen zu verspotten. Ganz ruhig sagte ich zu mir selbst: Mach dir keine Sorgen, es ist noch der erste Tag. Solche Dinge passieren später nicht mehr. Die Lehrerin schloss nach dem Lesen aller Namen und dem Durchblättern des Klassenbuchs das Buch und legte es ruhig auf den Tisch.

Dann erhob sie sich kraftvoll von ihrem roten Drehstuhl, richtete ihren Ledergürtel, schlug ihre Hände fest zusammen und sagte: „Es soll ein gutes Jahr sein, sowohl für mich, da ich mein erstes Jahr hier an dieser Schule verbringe, als auch für euch, die ihr ernstlich vorhabt, diese Schule abzuschließen. Ich werde mein Bestes geben, um sorgfältig und geduldig zu unterrichten und auch eure Fragen zu beantworten. Bitte nehmt ihr euch die Zeit, den Unterricht zu verfolgen und stellt jede Frage, die ihr habt.“

Sie drehte sich zur Tafel und wischte sie sauber. Sie nahm dann ein rotes Kreidestück, aber plötzlich hielt sie inne, stand auf und drehte sich wieder zu uns um. Sie räusperte sich leicht und legte eine Hand an ihre Schläfe, strich ein paar Haare hinter ihr Ohr und sagte: „Bitte, die Migranten und nicht-deutschen Schüler*innen sollen möglichst versuchen, nicht mit mir zu sprechen, denn ich habe kein Interesse daran, ihren deutschen Akzent zu hören. Wenn sie Fragen haben, können sie die anderen Klassenkameraden fragen und Antworten erhalten.“

Nachdem sie das gesagt hatte, wandte sie sich wieder der Tafel zu. Unbewusst drehten sich vier oder fünf Schüler*innen im Klassenzimmer zu mir um und warfen mir einen Blick zu. Eine meiner Klassenkameradinnen berührte sanft meine Schulter, „Mach dir keine Sorgen, wir haben nur einmal pro Woche Unterricht mit dieser Lehrerin. Lass dich nicht von ihren Worten verletzen.“, sagte sie mit einem sanften und freundlichen Ton. Ich sah sie mit tränenvollen roten Augen an, dann lächelte ich ihr sanft ins Gesicht.

Plötzlich brach die Wut über die Demütigung und die Sehnsucht nach den guten Momenten, die ich mit meinen Klassenkameraden und Lehrer*innen im Iran hatte, in mir aus. Ohne Erlaubnis zu bekommen, verließ ich den Unterricht, rannte zur Toilette, schloss die Tür ab und weinte laut, während ich mich an die Ereignisse der Physikstunde erinnerte. Ich sagte zu mir selbst, dass ich auf alles vorbereitet war, außer auf dieses Ereignis.

Und mir es kam so vor, dass sich meine ewige Frage in meinem Kopf wiederholte: Warum bin ich eigentlich hier?

Ich hatte keine Antwort darauf. Aber ich wusste schon, dass mein Hiersein keine eigene Wahl war und ich versuchte nur, auf dem Weg zu bleiben, den meine Familie für mich gewählt hatte. Ich drehte den Wasserhahn auf und wusch mein Gesicht mit kaltem Wasser und setzte mich bis zum Ende der Unterrichtsstunde auf den Schulhof. Ich versuchte, all das zu vergessen und mich davon zu distanzieren.

Nach diesem Vorfall hatte ich lange Zeit kein Interesse, irgendwohin zu gehen oder mit jemandem zu sprechen.

Dies war für mich der größte Schock und verursachte mir die größte Einsamkeit nach der Migration. Ich sagte mir lange: Zu Hause bleiben selbst ist ein Leiden und das Gehen auch ein weiteres Leiden; Das Bleiben ist ein Leiden und die Fremde selbst auch ein anderes Leiden. Was ist das Leben an sich?! Warum hatte die Lehrerin ein Vorurteil von mir, ohne dass ich ein Wort gesagt habe? Warum denn und viele andere Fragen, die mir plötzlich Kummer und Tränen verursachten. Aber ich weiß, dass diese Bitterkeit, dieser Kummer, wie Wachs schmilzt, sich auflöst, aber nicht für ewig verschwindet. Schau, es ist sechs Monate her. Alles andere ist vergangen, aber es ist immer noch da und alles wohnt in meinem Herzen.


2. In meinem verwirrten Gedächtnis

Zum zweiten Mal klingelte mein Handy-Alarm. Ohne meine Augen zu öffnen, schimpfte ich über alles, was auf der Erde ist, während ich nicht vermochte, mich vom Bett zu erheben.

Heute wollte ich zum Jugendamt gehen, um meine Studien- und Berufswahl zu planen und danach musste ich mit meinem Vater zur Bank gehen, weil sein Online-Banking auf seinem Handy ernste Probleme hatte.

Warum musste er kaum aufgewacht und gefrühstückt versuchen, Geld zu überweisen, sodass er den Pin-Code falsch eingab?

Aber nun gut, es dauert eine halbe Stunde und dann ist alles erledigt. Ich konnte in solch einer Lage überhaupt kein Frühstück essen, der Stress ließ es nicht zu. Ich steckte den Wasserkocher ein, um Wasser zu kochen, dann konnte ich wenigstens eine Tasse Tee trinken, um meinen Kehle fürs Sprechen zu öffnen. Ich legte einen Teebeutel in die Tasse und umklammerte die Tasse mit einer Hand, während ich den aufsteigenden Dampf betrachtete und darüber nachdachte, worüber ich heute sprechen sollte. Welches Gesprächsthema ist richtig, und welche Worte kenne ich und welche nicht?

Nachdem ich meinen Tee getrunken und mich fertig gemacht hatte, stieg ich in den Bus und kam eine halbe Stunde später an. Natürlich blieben noch fünfunddreißig Minuten bis zum Termin und ich war nur deshalb so früh da, weil alle von Anfang an betont hatten und wiederholten : „Wenn du einmal zu spät kommst, ist alles vorbei.“ Der Stress, einen Termin zu verpassen, zwang mich sogar dazu, eine Stunde früher zu meinen Verabredungen zu gehen. Nach dreißig Minuten kam eine sehr freundliche Dame auf mich zu, mit hohen schwarzen Stiefeln und einem cremefarbenen Rock, der mit Blumenspitze verziert war und welligem Haar, das perfekt zu ihrem Outfit passte. Sie begrüßte mich mit einem hellen Lächeln, rief meinen Namen aus und brachte mich in ihr Büro. Wir sprachen lange, etwa zwei Stunden, miteinander, planten meinen Stundenplan und vereinbarten, dass ich ihr von nun an meinen Fortschritt mitteilen sollte und ob ich meinen Stundenplan einhalte oder nicht. Dann betonte sie die Bedeutung meines Stundenplans. Nach meiner Abreise war sie vielleicht die fünfte oder sechste freundliche Deutsche, die ich getroffen hatte.

Ich steckte meine Air-Pods auf mein Handy und hörte das Lied „Rafiq, d.h. mein Freund“ von Siavash Ghomayshi. Nach meiner Migration war dies das einzige Lied, dessen Hören mir nach langer Zeit wieder Ruhe gab und meine Motivation zum Weitermachen stärkte. Ich summte es leise im Einklang mit dem Sänger vor mich hin, während ich zur Bank ging und als ich ankam, sang ich:

„Hab Geduld, es ist zu hören,
nach Herzenslust noch ein Lachen/
Du bleibst am Leben, oh Freund,
Hab Geduld, diesen Weg einzuschlagen/
Leg den Sturm hinter dich,
Der Mond scheint hell im Dorf da drüben… /
Dieses Murmeln klingt stets mir im Ohr,
Morgen, ja morgen ist voller Freiheit/
Hab Geduld, oh Freund, wir sind beide allein, /
Hab Geduld, oh Freund, wir kommen ja endlich an/.“


Ich kam vor der Bank an und wartete auf meinen Vater. Es wehte ein starker Wind und ich ging in die Bank, um dort zu warten. Zehn Minuten später kam mein Vater und wir stellten uns in die Warteschlange, bis wir dran waren. Nach einer Viertelstunde waren wir an der Reihe und ein großer Mann mit blauen Augen und dicken Augenbrauen, gekleidet in einen schwarzen Anzug, an dessen Brust er seinen Namen mit einem goldenen Anstecker befestigt hatte, stand hinter dem Schalter, rief uns auf.

Er grüßte uns und fragte nach unserem Problem. Ich begann zu erklären, aber er unterbrach mich und sagte, dass wir einen neuen Pin-Code brauchen, weil der alte von meinem Vater falsch eingegeben worden war. Er ließ mich nicht weiterreden. Er ging mit dem Handy weg, löschte die Bank-App und sagte, ich solle sie neu installieren, um einen neuen Pin-Code zu erhalten und gab mir nur meine Identitätskarte zurück. Ich übergab sie ihm und er ging. Als er zurückkam, sagte er: „Das ist der einzige Code, den Sie haben und Sie müssen mit dieser Maßnahme fortfahren. Auf Wiedersehen.“ Mein Stress wurde noch größer: „Entschuldigung, können Sie uns nicht helfen?“ fragte ich ihn. „Ich habe das noch nie gemacht, ich weiß nicht, wie es geht“. Er verdrehte die Augen, ließ das Handy auf den Tisch fallen, „Nein, ich kann nicht helfen. Meine einzige Aufgabe bestand darin, den Code auszudrucken, also nehmen Sie Ihre Sachen und gehen Sie!“ sagte er rechthaberisch.

Ich fühlte, wie mein Stolz gebrochen wurde und konnte das Gewicht der Blicke aller Bankkunden auf mich spüren.

„Es ist in Ordnung, lass uns gehen und es zu Hause richtig machen.“ sagte ich zu meinem Vater. Was wir auch versucht haben, hat nicht funktioniert. Dieses Ereignis führte dazu, dass das Online Banking auf dem Handy meines Vaters gesperrt wurde und wir konnten nicht darauf zugreifen. Am nächsten Tag gingen wir wieder zur Bank, diesmal in eine andere Filiale. Dort war eine sehr respektvolle Dame hinter dem Schalter, die geduldig mit allen Kunden umging. Ich dachte in der Stille der Schlange, hoffentlich wäre diese Dame unsere Ansprechpartnerin. Ich war gestresst, weil es bis zum Ende des Arbeitstages an diesem Tag behoben werden musste, damit wir einige seiner Raten online bezahlen und Geld überweisen konnten. Während ich darüber nachdachte, sagte eine weibliche Stimme: „Nächste bitte!“ Ich ging zu ihr, ganz ruhig. Sie fragte mich höflich und lächelnd, wie sie mir helfen könne. Ich erklärte das Problem und sie hörte geduldig zu. Sie nahm meinen Ausweis und ging zum Drucker. Dann kam sie mit ein paar Blättern zurück und erklärte ausführlich, dass ich von Anfang an selbst einen neuen Pin-Code festlegen müsse. Außerdem muss ich mich erneut in der Anwendung registrieren. Die Frau half uns bis zum letzten Moment, bis die Anwendung erneut auf dem Handy funktionierte und es dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Ich hatte überhaupt keinen Stress und folgte ruhig den Schritten, die sie mir erklärte. Als alles erledigt war, bedankte ich mich herzlich bei der Frau und verließ die Bank. Auf dem Rückweg dachte ich darüber nach, warum? Was passiert jemandem, der einen Job bzw. eine Aufgabe hat, in dem er verpflichtet ist, den Kunden zu helfen, aber er tut es nicht mit dem Herzen und unhöflich? Oder warum war jemand so freundlich und lächelte mit dem vorherigen Kunden, der deutsch war, aber nicht mit mir …

Man weiß es vielleicht nicht, dass man mit seinem Benehmen den Kund*innen Stress geben kann, indem man sie schlecht behandelt. Ich verlor damit mein Selbstvertrauen. Aber ich vergesse nie diese Erlebnisse. Sie bleiben mir immer im verwirrten Gedächtnis, wie in Stein gemeißelt.

Aus dem Persischen übersetzt von Ali Abdollahi.