Ataye Zabiullah

Über mich:

Hallo, ich bin Zabihullah Ataye, geboren 1989 in der Provinz Herat. Ich habe einen Bachelor-Abschluss in Landwirtschaft. Ich habe ein Jahr Management und zwei Jahre Pharmazie studiert. Meine Muttersprache ist Paschtu, ich spreche Persisch, Englisch und ein bisschen Deutsch. Ich bin seit 7 Jahren in der Wasserwirtschaftsbranche tätig. Ich habe Berufserfahrung im Gewürzhandel und im Gewächshausbau. Ich bin am 16. Mai 2022 nach Deutschland gekommen. Ich lebe derzeit in der Stadt Stralsund. Als ich in Deutschland ankam, nahm ich an einem kostenlosen Online-Kurs zur Testautomatisierungstechnologie teil. Glücklicherweise konnte ich diesen Kurs zur Automatisierungstesttechnik 10 Monate lang erfolgreich absolvieren. Mein Wunsch ist es, in den Bereichen IT, Landwirtschaft oder Pharma zu studieren oder einen Job zu finden, um den Menschen in Deutschland von Nutzen zu sein.

Briefwechsel:

Ataye Zabiullah – Vera Rusch
Ataye Zabiullah – Regina Kielpinksi-Margenfeld

Originaltexte

Übersetzungen

Seit 2014, nach meinem Universitätsabschluss, stehe ich meinem Volk in verschiedenen politisch-gesellschaftlichen und bürgerlichen Ämtern zur Seite. Ich begann mit der Arbeit in der unabhängigen Wahlkommission Afghanistans und war zuletzt in humanitären Projekten der deutschen Regierung in der Provinz Herat beschäftigt.
Ich bin in Herat geboren und bevor ich nach Deutschland kam, lebte ich in dieser wunderschönen Stadt. In all diesen Jahren war in Herat alles in Ordnung, die Stadt kümmerte sich wie eine Mutter um hunderte von Waisenkindern wie mich und ließ tausende von Menschen in ihrem reinen Schoß heranwachsen. Die Stadt Herat, mit ihrem offenen und weiten Herzen, beherbergte stets glückliche und freundliche Menschen, die ihr viel Liebe schenkten, an ihrem großzügigen Tisch saßen und sich die Gaumen mit ihren kostbaren Spezialitäten versüßten.
Herats Nächte waren wie helle Tage und Herats Tage wie ruhige Nächte. In den Schulen und Universitäten dort tummelten sich wissensdurstige Mädchen und Jungen, die Restaurants und Cafés dieser Stadt waren voll von verschiedenen Gästen und vielfältigen Speisen. Die wunderschöne Natur strich den Kummer aus dem Gesicht eines jedes Trauernden. Es genügte, sich der wunderschönen Natur hinzugeben. Fremden war es unmöglich, Herat zu besuchen, ohne dabei ein Verehrer seiner Kultur und Schönheit zu werden. Aber die Zeiten bohrten nach und nach ihren giftigen Stachel in Herats gesegneten Körper und ließen seine einzigartige Pracht langsam fahl und blass werden. Die frühlingshaften Zeiten schlugen in Herbststürme um.  
Alles geschah im August 2021. Die kalte Jahreszeit näherte sich langsam, und im Vergleich zum Kriegsalltag der vergangenen Jahre erhitzten sich plötzlich die Schlachtfelder an den entlegeneren Stadtteilen Herats. Aufgrund der Bedrohungslage hatten die meisten internationalen Organisationen ihre humanitäre Hilfe an diesen entfernten Orten eingestellt, während tausende Frauen und Kinder in diesen entlegenen Teilen Herats inmitten von Krieg, der Corona-Pandemie und Dürre mit Hunger und Not kämpften.
In solch schwierigen Tagen war die deutsche Regierung in den abgelegenen Teilen Herats mit einem Nothilfeprojekt für Ernährung und Gesundheit sehr aktiv, um gefährdete Frauen und Kinder vor dem Verhungern zu bewahren. Ich war für die Koordinierung des Projekts mit den einheimischen Behörden vor Ort zuständig. Obwohl die Arbeit damals nicht ungefährlich gewesen ist, wäre dieses Hilfsprojekt möglicherweise ausgesetzt worden, wie hundert andere Projekte zuvor, wenn ich die Verantwortung nicht übernommen hätte, und so sah ich mich in der Pflicht, es umzusetzen.
Es war genau eine Woche vor dem Fall von Herat. Gemäß dem Auftrag des Projektmanagers begab ich mich mit einem Arbeitsteam, bestehend aus Männern und Frauen, in ein abgelegenes Dorf namens Adjirama. Adjrima ist ein Dorf im Herzen der Berge, 45 km vom Distrikt Kashk Rabat Sangi entfernt, in dem Menschen in absoluter Armut lebten. Ohne Strom, ohne sauberes Trinkwasser, ohne Hygiene und ohne ausreichend Nahrung. Diese Menschen waren so arm, dass sie nur einmal am Tag etwas aßen, um zu überleben. 
Es ist Freitag, 14 Uhr. Wir sind in einem Herrenhaus, dem letzten Herrenhaus, um das wir uns zu kümmern hatten. Das freistehende Haus liegt etwa 300 Meter von anderen Häusern entfernt, parallel zur Nebenstraße, gegenüber einem Garten mit verfallenen Lehmmauern. Es ist das letzte Haus, das von uns erfasst werden soll. Unsere weiblichen Kollegen interviewen die Hausfrauen in einem separaten Raum, während meine männlichen Kollegen und ich den Herrn des Hauses ebenfalls in einem separaten Raum interviewen.
Nach einer Weile schlossen wir die Befragung des Hausherrn ab. Dann verließ ich das Haus mit den anderen männlichen Kollegen. Der Dorfwächter und der Hausherr gingen ins Haus, um unseren Kolleginnen Bescheid zu geben, dass unsere Arbeit erledigt sei und wir auf sie warteten. 
Es waren kaum ein paar Augenblicke vergangen, als plötzlich ein schwarzes Auto mit hoher Geschwindigkeit und eingehüllt in Staub und Schmutz auf uns zukam und dreißig Meter vor uns mit einem fürchterlichen Geräusch anhielt und den Staub dabei drei Meter hoch aufwirbelte. Dann öffnete sich die vordere Tür des Autos und ein 33-jähriger Talib, in Schwarz, in eine Kurti mit Leopardenmuster und einen Kandahari-Hut gekleidet, stieg aus, mit starrem und rohem Gesicht und einem Schnurrbart, als ob Blut aus ihm tropfte. Dann öffnete er den Kofferraum des Autos, nahm eine Kalaschnikow heraus und kam auf uns zu. Er schrie laut: „O ihr Ungläubigen, ich werde euch töten, ich werde der Richter sein, ihr habt unser Gesetz gebrochen. Ihr alle seid westlich, euch zu töten ist für mich der Dschihad.“ Dann lud er die Waffe durch und sagte: „Hebt eure Hände. Wendet eure Gesichter ab, schließet eure Augen.“Ich werde diesen Moment nie vergessen, es war schwer genug, unsere Herzen schlugen wie Spatzenherzen, jeden Moment hielten wir den  Atem an und jeden Moment standen wie kurz vor dem Tod.
Plötzlich war das markerschütternde Geräusch von Schüssen zu hören und alles um uns herum wurde rot, unsere Körper wurden schlaff und unsere Gesichter wurden weiß, unsere Zungen hörten auf sich zu bewegen und unsere Ohren hörten auf zu hören. Wir verloren das Bewusstsein und verloren uns selbst. Lediglich unsere Augen und unser Geist standen noch ein wenig unter unserer Kontrolle, manchmal war uns, als sei nur noch unsere Seele am Leben, nicht aber unser Körper. In diesem Zustand befanden wir uns, als die Stimme des Dorfvorstehers plötzlich in unseren Ohren widerhallte. Wir kamen ein wenig zur Besinnung, wandten ihm unsere Gesichter zu und sahen, dass der Dorfvorsteher seine Hand am Gewehrschaft hielt, das Gewehr über unseren Köpfen in die Luft hob und in die Luft feuerte, während eine andere Person den Talib festhielt. Der Dorfvorsteher sagte dem Talib: „Ich kenne dich, das sind meine Gäste, und solange ich lebe, kannst du sie nicht töten.“ Der Talib, dessen Blut kochte, schrie mit verzerrtem Gesicht: „Lass mich los, Dorfvorsteher! Wenn nicht, werde ich dich ebenfalls töten und dich in dasselbe Grab werfen wie sie!“ Schließlich kamen mehr und mehr Menschen hinzu, die den Talib festhielten und uns aufforderten, zu verschwinden, bevor dieser Mann wieder freikommen würde. Wir bestiegen eilig die Dienstwägen und flohen blitzschnell in die Stadt Herat.
Es war Abend, als wir das Stadttor Herats erreichten. Am Tor hingen mehrere Leichen. Es gab keine Straße mehr, keinen Laden und keinen Markt, keinen Ort, an dem nicht Tod und Zerstörung herrschten. Alles war voll von Rauch und Leichen, als wäre dies nicht Herat, sondern die Hölle.
Wir riefen sofort unseren Manager an, um Informationen einzuholen. Der Manager sagte, die Taliban hätten vor zwei Tagen die Stadt Herat erobert, man müsse sich verstecken, denn die Lage sei schlimm. Als ich diese Nachricht hörte und die leblosen Körper sah, sprang mir die Seele erneut aus dem Körper und wir trennten uns eilig von unseren Kollegen und jeder von uns ging in eine andere Richtung und versteckte sich. Bis die Bundesregierung mir und einem Großteil meiner Kollegen ein Bleiberecht erteilte und wir in Zusammenarbeit mit dem ehrenwerten Büro J.A. Zaid am 16. Mai nach Deutschland kamen. Ich lebe nun in der Stadt Stralsund, aber ich weiß nicht, ob die Lage jemals wieder so gut werden wird, dass ich nach Herat reisen und meiner Heimatstadt Hallo sagen kann. 
Abgesehen von Iran und Pakistan betrete ich diesen grünen Kontinent d.h. Europa zum ersten Mal. Da alles auf einmal geschah, hatte ich mir vorab kein Bild von Deutschland und dem Leben in diesem Land machen können. Ich wusste nichts über Deutschlands Städte und die Unterschiede der Lebensführung in den verschiedenen Regionen. 
Ich wusste nur, dass es in Hamburg viele Heratianer gibt, und so war mein erster Gedanke, dass es für mich am besten wäre, bei ihnen zu sein. Aus diesem Grund hatte ich im Visumformular der deutschen Botschaft in Teheran die Stadt Hamburg ausgewählt, was jedoch nicht angenommen wurde. Man schickte mir eine E-Mail mit der Bitte, eine neue Stadt auszuwählen. Da ich damals durch die schrecklichen Entwicklungen unter Schock stand und immer wieder von diesem furchtbaren Albtraum überwältigt wurde, hatte ich keinerlei Geduld, danach zu recherchieren. Ich wünschte mir einfach für ein paar Stunden einen ruhigen Schlafplatz, damit meine seelischen und körperlichen Schmerzen etwas nachlassen würden. Um der Botschaft eine Rückmeldung für den Visumsantrag zu senden, habe ich im Internet nach Namen wenig besiedelter Städte in Deutschland gesucht. Dann wählte ich die Namen von drei Städten aus und gab sie der Botschaft. Die Namen waren für mich so neu, dass ich sie weder in meinen Träumen noch im Wachleben gesehen hatte. Es war das erste Mal, dass ich sie sah. Nach ein paar Tagen wurde mein Visum ausgestellt.
Mein Leben begann mit viel Traurigkeit und Heimweh sowie der Sehnsucht nach meinem Heimatland, meiner Heimatstadt, meinen Verwandten und Freunden. Mit den Tagen wurden die Probleme, mit denen ich in dieser Stadt konfrontiert war, immer offensichtlicher und das Erlernen der Sprache wurde für mich von Tag zu Tag wichtiger, lebenswichtiger. Die Unkenntnis der deutschen Sprache wurde langsam zu meinem größten Problem.
Aus diesem Grund suchte ich seit meiner Ankunft in Deutschland nach einem Sprachkurs. Ich habe mich mehrfach für verschiedene Sprachkurse angemeldet, es waren jedoch keine Plätze frei. Ich freue mich sehr, dass ich heute die Möglichkeit habe, an der Volkshochschule in Stralsund Deutsch zu lernen.
Mein Wunsch ist es, die deutsche Sprache gut beherrschen zu können, später weiter in einem der IT-Bereiche zu studieren oder  zu arbeiten, um auf diese Weise nützlich sein zu können.

Liebe Grüße
Zabihullah Ataye

Aus dem Persischen übersetzt von Ali Abdollahi.

Ich bin ein Kind und mein Leben ist reich an bunten Tagen und Glück. Ich bin trunken und versunken in bunten Freuden. Ich bin mir der Tatsache nicht bewusst, dass die Existenz meiner Eltern dabei ist, zu verblassen, während die meine immer strahlender wird, dass ihre Haare weiß werden, während mein Gesicht immer strahlender wird, sie brennen vor Liebe, um mir den Weg zu erhellen.
Nach und nach wirft der Staub bitterer Tage einen Schatten auf mein Leben und meine Kindheit und plötzlich wird meine Mutter krank und schmeckt den bitteren Geschmack des Todes. Nun bin ich so sehr Kind, dass ich weder an den Tod glaube noch weiß, was der Tod eigentlich ist. Und mir gilt jetzt nichts mehr außer dieser Satz: „Vater! Ich will meine Mutter, ich will, dass du mich zu meiner Mutter bringst!“ Von da an wachse ich in den Armen meines Vaters auf, sage „Mutter! Mutter!“, und weine.
Trotz Trauer machte Vater sein schmerzendes Herz steinhart und nahm eine kräftige Gestalt an, sodass ich mich auf ihn stützen konnte. Manchmal spielte er die Rolle der Mutter für mich, manchmal die des Vaters, beide mit vollkommener Präzision. Beim Sprechen verkleidete er mit seinen schönen Worten und Sätzen den Tod meiner Mutter und nähte daraus ein wunderschönes Kleid, damit ich den Tod der Mutter nicht spüre, während er selbst innerlich wie ein Schmetterling brannte, der um eine Kerze kreist. Manchmal spielte ich als Kind mit seinem Bart und manchmal auf seinen starken Schultern, und er war stark wie eine Löwe und freundlich wie ein Elefant.
Das Karussell der Zeit drehte sich weiter. Und ich fühle, dass er mir eine echte Stütze ist, meine Hände sind mit den seinen vertraut und jedes Mal, wenn ich traurig bin, erleichtert es mich, seine Hände zu küssen.
Jetzt bin ich ein junger Mann, ich weiß, dass mein Vater von Tag zu Tag schwächer und dünner wird, sein breites Gesicht ist voller Falten, deshalb versuche ich, mehr Zeit in seinen Armen zu verbringen, und er erzählt mir Geschichten und ich höre ihn ruhig und mit dem ganzen Herzen an. 
Auch in den letzten Tagen seines Lebens erzählte mein Vater mir Geschichten und ich hörte ihm liebevoll zu, bis der bittere Tag erneut sein tödliches Gift über unser Leben goss und meinen Vater für immer von mir nahm.
Was für eine grausame Welt! An diesem Tag machte die Zeit mich wieder zu einem Waisen, und die Sehnsucht, seine liebevollen Hände zu küssen und seine süßen Geschichten noch einmal zu hören, blieb für immer in meinem Herzen. Mit dem Tod unseres Vaters verließen auch Frieden und Trost unser Haus und unsere Herzen, aber wir haben unsere Eltern nie vergessen.
Neben der größten Trauer lehrte ihr Tod mich die nachhaltigste Lebenslektion: Und zwar, dass die Zeit die kostbaren Segnungen, die sie uns nimmt, niemals zurückgeben wird, bis wir uns treffen, und dass keine Liebe ist wie die Liebe der Eltern und keine Umarmung so warm wie die ihre. Die Eltern sind so warmherzig. Wenn wir heute erwachsen sind, ist das nur dem Segen unserer Eltern zu verdanken, die uns vor Unglück bewahrt haben, wie mit einem Schild, und deshalb strömen mir bei der Erinnerung an sie stets bittere Tränen über das Gesicht und auf das Papier.

Aus dem Persischen übersetzt von Ali Abdollahi.

Vor dem Fall glänzten 
die Augen der Stadt Herat.
Ihre wunderschöne Natur
strahlte Charme und Flair 
an jeden Fremden aus.
Jeder, der zum ersten Male 
in ihrem Herzen weilte
und sie besichtigte, 
verliebte sich
in ihre Natur, Kultur 
und die Freundlichkeit ihrer Bewohner.
Sie war keine Stadt,
eine Wiege der Zivilisation vielmehr.
Aber heute
zu allem Unglück
ist all dies zerstört
und bitterlich leidet sie nun
an den Nöten der Zeit.

Aus dem Persischen übersetzt von Ali Abdollahi.