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Briefwechsel:
Everest Girad – Vahid Omidi
Everest Girad – Fariba Amireskandari
Originaltexte
Antwort an Vahid Omidi
Eingehüllt in einen Schlafsack schläft ein Mädchen. Sie denkt, wenn ein Stück Haut sichtbar wird, holt sie der Mann und tut ihr Böses. Wer der Mann ist, weiß sie 40 Jahre später nicht. Bis heute schläft sie allerdings komplett vermummt, nur die Füße dürfen rausschauen. Füße zum Wegstoßen.
Ein Kind von Vertriebenen ist sie, in einem Land ohne Krieg und ohne Hungersnot, jedoch gezeichnet von alten Kriegen und Hungersnöten. Geboren in einer Stadt, in der ihre Eltern nur auf der Durchreise waren, hat sie keine Wurzeln in ihrem Land. Weggestoßen. Angefangen bei den Großeltern.
Mit zehn Jahren schläft sie immer noch in einem Schlafsack. Keine ihrer Freundinnen schläft in einem Schlafsack, außer auf dem Campingplatz oder wenn jemand zu Besuch ist. Es sind feine Nuancen, die von außen kaum wahrnehmbar sind. Kleine Elemente, die man erst zusammenfügen und zusammenfügen wollen muss, damit es Klick macht. Der Schlafsack ist so ein Element.
Als sie irgendwann das Land wechselt, wird alles sichtbarer. Nach ihrer Herkunft fragt man sie, bevor man nach ihrem Namen fragt. Wo kommst du her? Wie lange bist du schon hier? Willst du irgendwann zurück? Komplizierte Fragen, die aber einfache Antworten verlangen. Nach 23 Jahren im Ausland stellt sie fest, dass sie für die Menschen, die sie trifft, immer am Ankommen ist. Oder immer noch auf der Durchreise. Sind Sie zu Besuch hier? Ach, Sie wohnen hier? Schön, schön. Wie lange denn? 9 Jahre! Und, wie finden Sie Rostock? Und warum sind Sie hier?
Als sie mit ihrem 4-jährigen Kind in Rostock ankommt, ruft es: „Mama, guck mal, wir sind in Frankreich, überall ist die blau-weiß-rote Fahne!“
Warum sind Sie hier? Wird einem die Frage auch gestellt, wenn man sein ganzes Leben am selben Ort verbringt? Und stellt man sich dann auch diese Frage? Inzwischen war sie ihr halbes Leben schon im Ausland. Warum hier und nicht woanders? Machte es wirklich einen Unterschied? War sie angekommen? Was heißt schon ankommen? Könnte sie es jemals? Wenn sie ihre Eltern besucht, wird sie die Deutsche genannt, nicht ohne Unterton, sie ist ja in einer ehemaligen Hochburg der Widerstandskämpfer. In Deutschland ist sie die Französin. Was würde überhaupt ankommen bedeuten? Dass sie einfach bei ihrem Vornamen genannt wird, an keine Nationalität geknüpft wird? Dass sie tief drin in ihr keinen Wunsch verspürt, das Weite zu suchen, keine Sehnsucht nach ihrem Herkunftsland hat? Dass sie ihr Leben von nun an plant und sagt: Jetzt bin ich hier angekommen und werde nie wieder woanders leben. Vielleicht ist Ankommen aber auch einen Platz haben. Ein neues Gefühl, mit dem sie noch nichts anfangen kann.
In ihren Augen ist sie für immer das Mädchen, das in ihrem Schlafsack liegt. Sie wird wach, sieht ihren Eltern beim Packen zu und schaut sie fragend an. Die Antwort ist dieselbe wie immer. Wir ziehen weg, an einen anderen Ort, wo es uns besser gehen wird.
Sie glaubt nicht, dass es einen solchen Ort gibt. Noch nie ist sie einem solchen begegnet. Wo fühlt sie sich denn sicher? Unter der Decke. Wenn alles nach Schlaf riecht und die Morgensonne sogar durch den Stoff scheint. Wenn ihr Blick auf Bücherrücken ruhen kann. Bücherrücken betrachten hilft auch im Notfall, wenn sie kurz davor ist, aus der Realität wegzudriften. Sie sind ihre Verbindung zur Außenwelt. Für die Geburt ihres Kindes packt sie Fotos von Bücherrücken ein, falls der Augenblick eintreffen sollte, an dem sie keine Kraft mehr hat und abdriftet. Als es so weit ist, betrachtet die Hebamme die Bilder und lächelt. Ach, so eine sind sie! Wie liebevoll ihre Worte klingen. Bei der Geburt ist sie ganz im Moment und im Ort, in dieser Welt verankert, in der ihr Kind gerade ankommt.
Sie trifft Menschen, die schon ihr ganzes Leben am selben Ort leben und sie fragt sich, wie es möglich ist. Wie kann man sein ganzes Leben dieselben Menschen sehen und denselben Himmel betrachten? Wie bewundernswert ist es, über die Jahre die Bäume und die Kinder wachsen zu sehen, Bestehendes verschwinden und Neues entstehen zu sehen und dabei sogar vielleicht festzustellen, dass das Neue sich vom Bestehenden nur bedingt unterscheidet. Vielleicht braucht man dann keine Bücherrücken als Bindestrich zwischen sich und der Welt. Vielleicht hat man dann dieses Gefühl nicht, dass es überall besser ist und nirgendwo Zuhause ist oder nirgendwo besser und überall Zuhause.
In einer Welt aufgewachsen, in der Heimat sich unter der Haut befindet. Keine Abhängigkeiten, keine Verbindungen, keine Routine. Mit 11 Jahren war sie 11 mal umgezogen. Mit 26 Jahren besaß sie zwei Koffer: einen für Bücher, einen für Kleidungen. Und da letzterer sehr leer war, wurde er auch mit Büchern befühlt. Die erste Regel: Nichts ist von Bestand. Die zweite Regel: Besitze nur so viel, wie du tragen kannst. Die dritte Regel: Deine Heimat bist du. Geht das überhaupt?
Am ersten Arbeitstag als Vertreterin an einer deutschen Schule bringt sie mehr recht als schlecht in Erfahrung, welche Papiere sie auszufüllen hat. Ob sie die Papiere auch ausfüllen darf, ist sie sich unsicher und benutzt einen Bleistift dafür. Als der Lehrer wiederkommt, den sie vertreten hat, gibt er ihr die Papiere zurück und sagt: „Hier sind wir in Deutschland, bitte schreibe alles neu, am besten mit einem blauen Kugelschreiber.“
Blau ist die Frau aus ihrem Lieblingscomic, sie weint blaue Tränen in einer zerstörten Welt. Es sind feine Nuancen, die von außen kaum wahrnehmbar sind. Kleine Elemente, die man erst zusammenfügen muss und will, damit es Klick macht. Es muss kein Kind dafür an einem Strand ertrinken. Es muss überhaupt niemand sterben oder weggesperrt werden, damit es Klick macht. Die blaue Tinte ist so ein Element.
Antwort auf: Vahid Omidi
Mitplanetengefährtin
Liebe Fariba, liebe Mitplanetengefährtin,
ich lese deinen Brief und freue mich, gern ergreife ich die Hand, die du mir reichst. Danke, dass du diese wunderbare Tradition der Yaldanacht geteilt hast und sie mit mir erleben möchtest.
Ob du die Süßigkeiten mögen würdest, die ich vorbereiten kann? Wie viele Süßigkeiten kann ich denn tatsächlich vorbereiten, frage ich mich dabei. Und wie viele könnte ich bei einem nächtlichen Fest tatsächlich vertragen? Welche Autor:innen könnte ich dir vorlesen? Rimbaud, Joseph Roth, Lasker-Schüler? Würdest du sie mögen? Ich kichere wie ein kleines Mädchen bei dem Gedanken, dich als Weihnachtsmann zu erleben. Mit dir könnte ich wahrscheinlich glatt das Weihnachtsfest wieder so genießen, wie ich es als Kind tat.
Ich lese deinen Brief und spüre deine Sehnsucht nach deinem Land, spüre die Traurigkeit in mir. Dein Heimweh kommt mir bekannt vor. Auch ich habe mein Land eines Tages verlassen. Wenn es dich tröstet, der Schmerz geht nie weg. Dafür wachsen andere Wurzeln und bringen neues Glück. Dir wünsche ich es von ganzem Herzen.
Ich lese deinen Brief und zweifle. Ich komme aus einem Land, dass für viele der Kriege auf der Welt heutzutage verantwortlich ist und vielleicht auch für deine Flucht. Ich schäme mich, in einer Gesellschaft zu leben, die auf Kosten von anderen in Frieden lebt. Und diese Ungerechtigkeit kann ich nur schwer aushalten. Wie dir ernsthaft und aufrichtig antworten? Was versuche ich mir vorzumachen? Oder dir? Wer bin ich, um dir zu antworten, dir zu helfen, zu behaupten, dir eine Freundin sein zu können? Als ich mit 19 meine Heimat verließ, brauchte ich nur in einen Zug zu steigen und meinen Ausweis zu zeigen um die Grenze zu passieren. Ich weiß nicht wie es ist, in einem überfüllten Boot zu sitzen und das Glück oder das Pech zu haben zu überleben. Noch nie habe ich einen Krieg erlebt oder musste in eine Flüchtlingsunterbringung.
Ich musste nie befürchten abgeschoben zu werden. Hauptsächlich habe ich positiven Rassismus erlebt, wie Menschen mir gegenüber positiv gestimmt waren, noch bevor sie mich kannten, aufgrund meiner Herkunft. Wie toll mein Land sei, und meine Sprache, und ob ich aus der Hauptstadt käme? Und wie schön, dass ich hier sei! Und wie gut ich Deutsch sprach. Dass ich ja anders sei als die Flüchtlinge, dass es nicht dasselbe sei. In solchen Momenten verstehe ich einfach kein Deutsch mehr.
Ich lese deinen Brief und denke, gern möchte ich mehr von dir lesen, mit dir kochen, dein Lieblingsessen kosten, deine Gedanken kennenlernen und zusammen träumen, wie ein Planet ohne Grenzen wäre.
Antwort auf: Fariba Amireskandari